067 - Der grausame Götze
Selbstsicherheit verloren. Aber die Macht des Bösen war in ihr. Sie bewies ihre Kraft mit sinnlosen Aktionen. Vor Dorian flogen Türen auf, ohne daß sie berührt worden waren, und krachten gegen die Wände.
Dorian ließ sich nicht beeindrucken und setzte sich auf sein Bett. Draußen schien die Sonne.
Tamara blieb an der Tür stehen, preßte ihre Handflächen gegen das Holz und starrte aus dem Fenster auf den verwilderten Rasen. Aber ihr Blick war seelenlos. Sie nahm nichts wirklich wahr. Langsam überzog sich ihr Gesicht mit tiefer Röte. Dann wurde sie bleich und biß sich auf die Lippen. „Setzen Sie sich, Tamara", sagte Dorian mit weicher Stimme. „Ich trinke einen Wodka. Wollen Sie auch einen?"
Sie sah ihn verständnislos an. Dann sagte sie gleichgültig: „Nein. Ja."
Dorian stellte zwei eisverkrustete Gläser auf den Tisch, zog die Flasche hervor und goß ein. Dann lehnte er sich zurück und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
„Den Zustand, in dem Sie sich befinden, nennt man Katzenjammer' oder heulendes Elend'. Sie sind nicht davon überzeugt, daß Ihre Berufung darin liegt, Agentin des Satans zu sein. Sie sind schön und lieben die Schönheit. Habe ich recht?"
Sie griff nach dem Glas, nickte mehrmals und nippte an dem eiskalten Alkohol.
„Was waren Sie, bevor Sie eingefroren wurden?"
„Chemikerin. Lomonossow-Universität. Zweifacher Doktor."
Dorian pfiff überrascht durch die Zähne.
„Und woran haben Sie gelitten?"
„Keine Ahnung. Die Ärzte haben es mir niemals gesagt. Und jetzt - ich kann es selbst jetzt nicht erfahren!"
Sie trank wieder einen Schluck des fünfzigprozentigen Alkohols.
„Ihr Verstand war plötzlich im Kraftfeld der anderen gefangen, nicht wahr? Und Sie konnten nicht ausbrechen und nicht allein bleiben."
Dorian brauchte nicht mehr weiterzufragen. Einige Jahre bewegungslos zu sein, nur mit einem funktionierenden Verstand, nicht einmal fähig, die Augen zu öffnen ...
„Ja. So war es. Woher - woher wissen Sie das alles? Warum wissen Sie es?"
„Weswegen hat man mich hierher geholt? Ich bin nicht ganz unerfahren auf diesem Gebiet."
„Ja. Es war furchtbar. Ich möchte nicht mehr daran denken. Aber ich muß daran denken. Immer.
Und dann überkommt es mich. Dann werde ich zum Tier. So wie in der vergangenen Nacht."
Dorian sagte leise und erschüttert: „Liebe und Teufelsanbetung vertragen sich nicht. Sie wollen in Wirklichkeit nicht grausam sein, Tamara. Sie wollen die schönen Seiten des Lebens kennenlernen und keine Sklavin des Bösen sein."
Wieder nickte sie. Als Dorian sie aufmerksam betrachtete, sah er, daß sie lautlos weinte.
„Sie wollen lieben und geliebt werden. Aber das ist in Dormogorsk nicht möglich. Und mit einem der Teufelsanbeter ist es auch nicht möglich, denn Sie kennen alle weitaus besser als sonst jemanden auf der Welt."
„Ja. Das ist richtig. Ich konnte es nicht sagen. Aber Sie haben es gesagt. In den richtigen Worten, Hunter."
„Außerdem waren Sie letzte Nacht keineswegs wie ein Tier. Sie waren geistesabwesend und haben mit geschlossenen Augen gehandelt. Sie haben nicht einmal einen Tropfen Blut getrunken."
Sie sprang auf und starrte ihn herausfordernd und ungläubig an.
„Ist das wahr?"
„Ja!" sagte er mit Nachdruck. „Das ist wahr. Ich kann Sie nicht überzeugen, aber es stimmt tatsächlich."
Er stand auf und sah, daß sie ratlos und verzweifelt war. Sie war ein Teil der Gemeinschaft, und sie versuchte auszubrechen. Sie würde es nicht schaffen, und wenn sie es versuchte, dann würden die anderen sich gegen sie wenden. Aber auch die anderen sechsunddreißig Teile der Gemeinschaft befanden sich in einer ähnlichem Stimmung.
„Ich kann Ihnen geben, was Sie im Augenblick mehr als alles andere brauchen, Tamara", sagte er leise. Er meinte e ehrlich. Es war die einzige Hilfe, zu der er fähig war.
„Was sollte das sein?" fragte Tamara flüsternd. Sie blickte noch immer zu Boden und wußte nicht, was sie mit ihren Fingern tun sollte.
„Freundschaft. Verständnis. Und Liebe", sagte er. Er strich leicht über ihr Haar. Sie schauerte unter dieser Berührung zusammen, aber sie genoß sie.
Dorian faßte ihren Kopf mit beiden Händen und zog sie leicht an sich. Tamara war nicht viel kleiner als er. Sie sträubte sich ein wenig, aber er zwang sie, in seine Augen zu sehen. Ihr Atem wurde schneller. Dann lehnte sie sich an ihn. Er suchte ihre Lippen und küßte sie.
Zuerst war es nur eine flüchtige Berührung der
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