067 - Der Redner
und apathisch aus, aber sie bewahrte ihre Haltung.
Der Redner war durchaus nicht sentimental, aber noch nie war ihm eine schöne Frau so fesselnd und anziehend erschienen. Ihr Anblick erschütterte ihn. Aber er war sich nicht darüber klar, ob ihn die furchtbare Lage bedrückte, in der sie sich befand, oder ob ihr ruhiges Wesen, das von Unschuld sprach, so großen Eindruck auf ihn machte.
»Ich bin Chefinspektor Rater von Scotland Yard«, sagte er freundlich, »und ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Sie schloß einen Moment die Augen und schüttelte müde den Kopf.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen sollte. Ich habe den anderen Beamten schon alles erzählt.«
Er ging zu dem Tisch, setzte sich dicht neben sie und gab dem anwesenden Wärter ein Zeichen, sich in eine Ecke des großen Raumes zurückzuziehen.
»Ich will Ihnen sagen, was Sie mir mitteilen sollen.«
»Woher das Gift kam? Ich weiß es nicht. Das habe ich nun schon so oft erklärt. Ich erwarte auch gar nicht, daß Sie es mir glauben.«
»Die Gerichtsverhandlung gegen Sie findet nächste Woche statt. Wollen Sie bei der Geschichte bleiben, die Sie über Mr. Brait erzählt haben?«
»Ich habe mit Mr. Brait niemals über Gift gesprochen. Darauf kann ich einen Eid leisten. Aber das macht wohl auch keinen Unterschied.«
»Wissen Sie, warum Mr. Brait Ihren Angaben widerspricht?«
Sie zuckte die Schultern.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Der Redner hatte ein erstaunlich und geradezu unheimlich feines Einfühlungsvermögen. Ihr Achselzucken und der Ton ihrer Stimme verrieten ihm mehr, als sie ahnte.
»Sind Sie mit Mr. Brait sehr befreundet?«
»Nein«, erwiderte sie zögernd, »nicht sehr.«
»Hat er jemals versucht, zu Ihnen in nähere Beziehungen zu treten?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Hat er Ihnen nie eine Liebeserklärung gemacht?«
Sie sah ihn bestürzt an.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Er hat Ihnen also eine gemacht?«
Sie seufzte.
»In gewisser Weise ja. Aber woher wissen Sie das?«
»Wie sieht Mr. Brait denn eigentlich aus?«
Ein scheuer, verwunderter Blick streifte ihn.
»Haben Sie ihn denn noch nicht gesehen?«
»Nein, ich bin bisher nur mit dem Polizeidirektor zusammengekommen. Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben, Mrs. Fainer, aber ich möchte Ihnen tatsächlich helfen, und ich stelle Ihnen keine Fallen, wenn ich Sie etwas frage.«
Sie schaute ihn lange und prüfend an.
»Ich glaube es Ihnen«, entgegnete sie dann. »Ich habe Ihren Namen schon gehört, Mr. Rater. Man nennt sie doch den Redner?« Ein schwaches Lächeln glitt über ihre blassen Züge. »Heute machen Sie diesem Namen tatsächlich einmal Ehre.«
Er konnte es nicht verhindern, daß er leicht errötete.
»Da mögen Sie recht haben«, sagte er zurückhaltend. »Aber wollen Sie mir nicht etwas mehr von Mr. Brait erzählen?«
Ihre Geschichte war nicht lang. Zweimal hatte sie einen unangenehmen Auftritt mit ihm gehabt, und er hatte ihr auch ein paar Briefe geschrieben.
Der Redner wußte, daß sie ihm verschwieg, wie schrecklich diese unangenehmen Auftritte für sie gewesen sein mußten.
»Haben Sie diese Briefe aufgehoben?«
Sie zögerte wieder.
»Ja. Ich war deshalb ein wenig in Unruhe, aber ich wollte sie aufheben für den Fall . Sehen Sie, mein Mann glaubte vollkommen an den ehrlichen Charakter Mr. Braits, aber ich habe mich sehr vor ihm gefürchtet. Ich legte die Briefe in einen Kasten und verschloß ihn, aber mein Mann muß ihn in meiner Abwesenheit geöffnet haben. Als ich ihn nach einiger Zeit wieder aufmachte, waren die Briefe nicht mehr darin. Ich weiß nicht, wie er auf den Gedanken kam, den Kasten zu durchsuchen, denn ich verwahrte gewöhnlich nur leeres Briefpapier darin.«
»Hat Ihr Mann mit Ihnen über diese Sache gesprochen?«
»Nein.«
»Es könnte doch aber auch sein, daß einer der Dienstboten die Briefe entwendet hat. Sind Sie überhaupt sicher, daß die Briefe wirklich herausgenommen wurden? Vielleicht liegen sie noch darin?«
»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Noch kurz vor meiner Verhaftung sah ich nach. Die Polizei hat den Kasten jetzt in Verwahrung. Aber man hat kein Beweismaterial gegen mich darin gefunden.«
Sie lächelte ihn wieder an.
»Aber nun sagen Sie mir, wie sieht Brait aus?«
Sie beschrieb ihn mit einigen Worten.
»In mancher Beziehung hat er einen sehr schlechten Charakter, und man kann ihn ja schließlich nicht dafür tadeln, daß er sich in eine Frau verliebt. Wenn er mir nur das
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