0676 - Die Höhle des Grauens
als habe er nicht bemerkt, was geschehen war.
Die dritte Schwester tastete nach seinen Gedanken, stieß dabei aber nur auf simple, auswendig gelernte Mathematikaufgaben, der er mechanisch abspulte. Die Gedanken, die darunter verborgen lagen, verschlossen sich ihr. Es war eine denkbar einfache, aber effektive Methode, um sich vor ungewollten telepathischen Übergriffen zu schützen. Zamorra hatte sie ausgetrickst. Die dritte Schwester schloß nachdenklich zu ihm auf. Bis zu dieser Minute hatte sie geglaubt, ihn vollständig unter Kontrolle zu haben. Er hatte sich nicht gegen seine Aufgabe gewehrt und die erste Prüfung gegen diesen Widerling Wu IIuan-Tiao ohne Schwierigkeiten bestanden. Sie hatte sogar den Eindruck gewonnen, daß seine Neugier auf diese Welt ihm wichtiger war als der Drang, deren vampirische Bewohner zu vernichten. So war es schon einmal gewesen, damals vor langer Zeit, als sie den gleichen Weg gemeinsam gingen, nicht ahnend, daß am Ende des Tages eine Katastrophe auf sie wartete. Er schien sich nicht mehr daran zu erinnern, oder vielleicht war es für ihn noch nicht passiert. Aber die dritte Schwester erinnerte sich nur zu gut an den schrecklichen Moment, in dem sie begriff, daß ihr Leben vorüber war. Nicht noch einmal, dachte sie schaudernd, der Himmelskaiser darf nicht zulassen, daß er mich wieder enttäuscht.
Die dritte Schwester spürte, wie ihre Kräfte langsam nachließen. Es fiel ihr immer schwerer, Zamorras Geist von seinem Körper getrennt zu halten und der Welt, in die sie sich und ihn geträumt hatte, Bestand zu geben. Sie hoffte, daß es ihren Schwestern bald gelang, den Körper des Zauberers in die Höhle zu holen. Denn dort mußte der Körper sterben, damit sein Geist mit ihr auf ewig in diesem Traum leben konnte.
Die dritte Schwester ergriff Zamorras Hand und drückte sie. »Wir sind da, Geliebter«, sagte sie mit einem Blick auf den Palast. »Unser Glück hängt nun von dir ab.«
***
Na klasse, dachte Zamorra sarkastisch, während ein Teil seines Gehirns sich weiter mit dem kleinen Einmaleins beschäftigte. Er begriff nicht, wie es der Vampirin gelungen war, seine Gedanken zu lesen. Auch wenn er sich sonst nicht an viel erinnern konnte, so wußte er doch, daß so etwas normalerweise nicht möglich war. Wieder ein Rätsel mehr…
Zamorra betrachtete den prächtigen Palast, der vor ihm lag, und fragte sich, wer darin wohl regierte. Auf den Treppen standen Soldaten, die Speere und Banner mit Schriftzeichen trugen. Ihre Uniformen waren goldbesetzt und einige waren zusätzlich mit einem goldenen Brustpanzer ausgerüstet, auf dem das stilisierte Abbild eines Wolfes zu sehen war. Der Dämonenjäger nahm an, daß es sich bei diesen Soldaten um Offiziere handelte. Rechts neben dem Palast entdeckte er die weiße Sänfte von Wu Huan-Tiao. Sie war immer noch geschlossen, stand aber auf dem Boden. Die menschlichen Sänftenträger ruhten sich im Schatten der Palastmauern aus.
Zamorras Blick fiel auf drei Holzpfähle, die ein Stück vor dem Palast standen. Für einen Moment glaubte er, drei Menschen zu sehen, die daran festgebunden waren und von einer grölenden Menge beschimpft wurden. Er blinzelte kurz, und das Bild verschwand. Nur die leeren Holzpfähle blieben zurück.
Von irgendwoher ertönte ein Gong. Ein zweiter antwortete aus einem anderen Teil der Stadt, dann ein dritter und ein vierter. Nach wenigen Minuten hallte die Stadt von den tiefen, klaren Tönen wider. Der Lärm war so groß, daß jede Unterhaltung unmöglich wurde.
Und das war wohl auch Sinn der Sache, bemerkte Zamorra, als er sah, wie die Vampire, die gerade noch die Auslagen an den Ständen betrachtet hatten, sich langsam auf den großen Platz zu bewegten. Andere standen von ihren Tischen vor den kleinen Garküchen, von denen die Straße gesäumt wurde, auf und gesellten sich zu ihnen. Was bietet man Vampiren in Garküchen an?, durchfuhr es den Dämonenjäger, aber er verdrängte den Gedanken sofort wieder. Es war besser, manche Dinge nicht zu wissen.
Der Lärm verhallte in den Straßen. Die Menge schwieg. Auf der Treppe des Palastes formierten sich die Soldaten zu einer Gasse und verneigten sich. Zwei von ihnen, die Brustpanzer trugen, liefen zur obersten Stufe und blieben mit im Wind flatternden Bannern stehen. Sie riefen etwas, das Zamorra nicht verstehen konnte.
Die Menge kniete nieder. Zamorra folgte ihrem Beispiel zögernd und beobachtete, wie sich hinter den Soldaten die beiden riesigen Flügel der
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