0679 - Der Blutbrunnen
ich.« Meine Antwort war ein Nicken.
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Über den kleinen Ort Coray schien eine gewaltige Hand zu liegen, die alles niederdrückte und jedes Leben in einer dumpfen Trägheit erstarren ließ.
Vier Tote hatte es vor fünf Tagen und Nächten gegeben. Zwei Männer und zwei Frauen.
Das Wissen um diese schrecklichen Taten lastete auf den Menschen. Es gab keinen, der sich nicht betroffen zeigte, auch die Kinder verhielten sich nicht so wie sonst. Sie spielten zwar im Schnee, aber ihre Stimme klangen, als würde jeder Ruf rasch erstickt.
Wer keinen triftigen Grund besaß, sein Haus zu verlassen, der blieb in den Wohnungen, doch an diesem Tag mußten die Menschen die Häuser verlassen, denn ihre vier Mitbewohner wurden beerdigt.
Der Friedhof lag etwas außerhalb des Dorfes. Angelegt auf einem kleinen Hügel, als sollten die Toten die fünf Kilometer entfernte Küste von ihren Gräbern aus sehen können. Es war schwer gewesen, die Gräber in den gefrorenen Boden zu hämmern, aber gemeinsam hatten sie es geschafft. Einen eigenen Totengräber konnte Coray nicht bezahlen, so war dem Schreiner des Ortes die Aufgabe übertragen worden, den Verstorbenen die letzten Häuser zu bauen.
Der Mann hieß Jean Trachet. Er war vierzig Jahre alt, ein knochiger großer Mann mit weizenblonden Haaren und einer sehr hohen Stirn. Er stand politisch ziemlich rechts, war deswegen schon einmal hinter Gittern gelandet, aber in Coray selbst führte er noch immer das große Wort. Das ihm allerdings auch vergangen war, als die vier Menschen in derselben Nacht ums Leben gekommen waren. Völlig ausgeblutet hatte man ihre Leichen gefunden, und sofort war bei einigen Bewohnern wieder die alte Geschichte um den Blutbrunnen hochgekocht.
Vor einigen hundert Jahren hatte hier eine fürchterliche Gestalt gewütet, ein Mann namens Leroque, der im Volksmund auch der Teufelsbote genannt wurde. Er hatte zahlreiche Opfer geholt, ihr Blut in den Brunnen fließen lassen, der damit immer wieder gespeist worden war.
Erst einem Mann namens Hector de Valois war es gelungen, dem schrecklichen Treiben ein Ende zu setzen. Nun aber sah es so aus, als wäre dieser Leroque wieder zurückgekommen, um seine mörderischen Taten erneut zu begehen.
Ob das alles so stimmte, konnte niemand sagen, bis auf eine Frau namens Veronique, eine junge Witwe, deren Mann vor zwei Jahren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen war. Sie hatte eine Idee gehabt und war gefahren, um Hilfe zu holen.
Niemand konnte sagen, wann sie zurückkehrte und ob sie erfolgreich gewesen war, jedenfalls war sie am Morgen des Beerdigungstages noch nicht wieder in Coray eingetroffen. Wie es aussah, wurde sie auf der Trauerfeier fehlen.
Noch war der Tag zu jung. Erst am Mittag würden sich die Bewohner in der Kirche und anschließend auf dem Friedhof versammeln, um ihre Toten auf dem letzten Weg zu begleiten.
Alles wies darauf hin, daß es einen der kleinen, wunderschönen und viel zu seltenen Wintertage geben würde, wo die Luft der reinste Balsam für die Lungen war und der Himmel die Farbe von hellblauer Seide angenommen hatte.
Ein Gasthof hatte bereits sehr früh geöffnet. Es gab Männer im Ort, die am Morgen kamen, dort ein Frühstück einnahmen, bevor sie zur Arbeit gingen, meistens Fremde, die weiter im Norden die Straße ausbesserten. Wegen der Kälte hatten sie ihre Arbeit abbrechen müssen. Dennoch öffnete der Wirt gerade am Tag der Beerdigung, auch wenn Madame schimpfte und ihn ein pietätloses Stinktier nannte.
Dem Schreiner Trachet war es sehr recht, daß er bei seinem Freund Luc etwas essen konnte. Vor zwei Wochen war seine Frau zu ihrer Mutter nach Reims gereist und bis heute noch nicht zurückgekehrt, denn der alten Dame ging es sehr schlecht, sie lag im Sterben, und es konnte jeden Tag passieren.
Trachets Kinder studierten seit einem halben Jahr in Paris und waren froh, das Kaff nicht mehr sehen zu müssen, wie sie selbst geschrieben hatten.
Jean Trachet war also allein, was ihm nicht viel ausmachte. So konnte er ohne Vorschriften tun und lassen, was er wollte. Wie auch an diesem Morgen, als er durch den Schnee ging und bei jedem Schritt aufstampfte.
Niemand würde an dem Tag zur Arbeit gehen. Die meisten verdienten ihr Geld in Quimper, der nächstgrößeren Stadt. Früher waren auch Bewohner von Coray zur See gefahren, aber das lag lange zurück. Da hatte keiner mehr Lust zu.
Neben der Kirche ließ jemand seinen Wagen an. Das Geräusch des stotternden Anlassers drang wie ein
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