0679 - Der Blutbrunnen
Mund, ohne daß er irgend etwas kaute. Seine Lippen zuckten, die Augen brannten, der Blutgeruch strömte ihm entgegen. Dann erst fiel ihm ein, daß er bei seinem Eintritt diesen widerlichen Geruch bereits wahrgenommen hatte.
Es dauerte mehr als eine Minute, bis er sich so weit gefangen hatte, daß er wieder in den offenen Sarg hineinschauen konnte. Auch auf dem Gesicht der Leiche zeichneten sich eine rote Spur und Blutspritzer ab. An den Lippen war die Flüssigkeit schon eingetrocknet.
Er stand da und starrte. Seine Gedanken beschäftigten sich trotz des Schocks mit der Situation. Obwohl es ihm schwerfiel, sagte er sich, daß er es noch einmal wagen mußte. Er wollte sehen, ob auch die anderen Leichen in ihrem eigenen Blut schwammen. Natürlich dachte er an die alte Legende mit dem Blutbrunnen. Sie wischte praktisch durch seinen Kopf, aber er wollte sie nicht so recht wahrhaben.
Mit Zitterschritten näherte er sich dem zweiten Sarg. Auch auf diesem Unterteil lag der Deckel lose, und Jean Trachet hob ihn an, ohne direkt auf ihn zu schauen.
Es war wie bei dem ersten Sarg. Da bildeten auch die anderen drei Totenkisten keine Ausnahme.
Vier Tote – zwei Männer und zwei Frauen, lagen in ihrem eigenen Blut, das aus den offenen Mündern geströmt sein mußte.
Auf der Oberfläche schimmerte das Blut wie Lack. Eine einsame Fliege, die den Winter bisher überlebt hatte, ließ sich auf einem Toten nieder. Sie saugte am Blut, und Trachet haßte das Tier plötzlich.
Und nicht nur das Tier. Er haßte plötzlich alles, die Särge, die Werkstatt, sein Haus, den Ort…
Er wußte selbst nicht, wie lange er nahe der Totenkiste stand, zitterte und dabei überlegte. Trachet dachte an die Beerdigung, die gegen Mittag stattfinden würde. Er fragte sich, ob man sie überhaupt durchführen konnte. Wenn die Angehörigen die Toten noch einmal sehen wollten – so war es schließlich Sitte –, würden sie den Horror ihres Lebens erleben und Jean möglicherweise die Verantwortung zuschieben, denn er hatte schließlich die Aufsicht über die vier Totenkisten gehabt.
Das Grauen wanderte weiter und verdichtete sich in seinem Magen zu einem stählernen Klumpen. Über den mit Sägespänen und kleinen Holzbohlen bedeckten Steinboden schlurfte er hinweg, weil ihm trotz der drückenden Furcht ein klarer Gedanke gekommen war. Wenn er mit jemand über den Fall reden wollte, kam nur eine Person in Frage. Der Pfarrer des Ortes. Er würde auch die Totenmesse lesen, und der Schreiner dachte mit Schrecken daran, daß die Särge noch gereinigt werden mußten, bevor sie in die Leichenhalle geschafft wurden.
Es war alles furchtbar grausam und kompliziert. Er kam mit sich und den Ereignissen nicht mehr zurecht, und den Geruch des Blutes schmeckte er sogar im Mund.
In seiner Werkstatt blieb er stehen. Der Boden schwankte, ihm selbst war das Blut in den Kopf geschossen. Jean dachte an den Pfarrer und daran, daß er sich so schnell wie möglich zu ihm auf den Weg machen mußte, denn plötzlich drängte die Zeit. Und doch blieb er stehen!
Jean Trachet hatte etwas gehört. Ein fremdes Geräusch, das nicht in seine Werkstatt paßte. Als wäre jemand gekommen, der sich hier versteckt hielt und sich erst jetzt bewegte.
Ausgerechnet noch in seinem Rücken!
Trachet fuhr herum. Die Angst wallte hoch und eskalierte, als er die düstere Gestalt mit dem bleichen und gleichzeitig schattenhaften Gesicht sah, die vor ihm stand.
Sie trug eine lange Kutte und hielt etwas in der Hand, das aussah wie ein scharfgeschnittenes Dreieck.
Eine furchtbare Mordwaffe.
Trachet gelang es nicht mehr, einen Schrei auszustoßen. Die Waffe wirbelte auf ihn zu, änderte noch die Richtung, huschte vor seiner Brust in die Höhe und erreichte den Hals.
Zwei Sekunden später erstickte der Tod jeden Schmerz. Wo er stand, sank der Schreiner Jean Trachet zusammen.
Sein Mörder aber huschte weg. Und es war so, als hätte es ihn nie zuvor gegeben…
***
Für uns war es eine Himmelfahrt gewesen, um ans Ziel zu gelangen.
In der Nacht hatten wir die Fähre genommen und sogar einige Zeit geschlafen. Am Morgen waren wir dann nach einem mehr als schlechten Frühstück in den BMW gestiegen und nach Frankreich hineingerollt.
Der Wagen war mit Winterreifen ausgerüstet worden, und es lagen für alle Fälle auch Schneeketten im Kofferraum.
Von St. Malo aus fuhren wir erst in südliche Richtung und dann nach Westen. Die Nacht über hatten wir auf der Fähre verbracht, es war noch dunkel, als
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