0683 - Die Verdammten der Nacht
gesehen hatte. Dieser Mann, der die Grube zugeschaufelt und ihren Sohn Mike lebendig begraben hatte.
Brenda wunderte sich darüber, wie klar und präzise ihr Gehirn plötzlich arbeitete. Möglicherweise war dieser Traum eine Botschaft an sie gewesen. Eine verschlüsselte Nachricht, die besagte, daß Mike noch lebte und ihre Hilfe benötigte. Er meldete sich eben über ihre tiefen Träume oder aber durch die Boxen.
Geisterstimme, Geisterschreiber – sie hatte davon gehört, daß es so etwas geben sollte, aber nie damit gerechnet, daß sie selbst einmal davon betroffen sein könnte. So etwas paßte nicht in ihr Leben, da war die andere Seite hinter dem düsteren Vorhang. Nein, nein, auf keinen Fall wollte sie das akzeptieren.
Oder doch?
Mike war ein Verdammter der Nacht. Was hatte das zu bedeuten?
So etwas sagte man nicht aus lauter Spaß. Da mußte mehr dahinterstecken. Ein tiefer, gefährlicher Grund. Da hatte sich das Grauen potentiert und war zu einem Begriff geworden.
Ein Verdammter der Nacht!
Wurden so etwa die Toten genannt, die nicht erlöst werden konnten? Brenda hatte sich mit diesem Gebiet nie beschäftigt, deshalb bestanden ihre Reaktionen auch nur aus Vermutungen. Aber möglich wäre es schon gewesen. Wer konnte denn überhaupt wissen, welche Geheimnisse diese Welt noch verbarg.
Sie stand auf.
Es war wieder normal warm geworden. Die Kälte hatte sich zurückgezogen. Vielleicht war sie auch in die Wände gekrochen, um dort zu bleiben. Möglich war in diesem Fall alles.
Er war einfach so sinnlos. Er war verrückt, er…
Hinter der Scheibe bewegte sich etwas. Brenda hatte hingeschaut, die Dunkelheit gesehen und auch die fernen Lichter einiger Lampen, die wie Sterne wirkten.
Ein Schatten schwebte herbei. Die Finsternis kam ihr plötzlich vor wie ein Meer, das durch wilde Bewegungen aufgeschaufelt wurde.
Ja, es waren Schatten, und sie nahmen die gesamte Breite des Fensters ein. Also sehr groß.
Eigentlich hätte sie jetzt flüchten müssen, denn Schatten konnten auch den Tod ankünden.
Sie aber blieb im Zimmer. Das Fenster war für sie zu einer Bühne geworden, auf der sich ein riesiger Magnet befand. Brenda kam sich vor wie ein Stück Eisen, das von dem Magneten angezogen wurde.
Auch wenn sie es gewollt hätte, es wäre ihr nicht möglich gewesen, sich zu drehen und zu fliehen.
Sie fand einfach nicht die Kraft dazu. Und deshalb blieb sie für einen Moment noch stehen, bevor sie den Oberkörper nach vorn beugte, ein Zeichen, daß sie bereit war, auf das Fenster zuzugehen, um den Schatten zu erreichen.
Für sie war er bis zu diesem Zeitpunkt noch ein konturenloses Etwas. Da bewegte sich ein Gegenstand, der sie entfernt an einen großen Vogel erinnerte mit sehr breiten und weiten Schwingen, die er auf und nieder bewegte.
Das war alles…
Nicht ihr Sohn, ein Vogel – oder Mikes Seele? Durch ihren Kopf rasten allerlei Vermutungen, und Gedanken, der richtige war wohl nicht dabei. Sie war nicht so vermessen, daran zu glauben. Sicherlich war alles anders, ganz anders.
Und sie ging wieder vor.
Ja, sie tat es gern. Das Fenster eröffnete ihr eine gewisse Erlösung von den Problemen. Wenn sie es erreicht hatte, würde sie mehr wissen, daran glaubte sie plötzlich.
Alles würde anders sein. Es gab dann die entsprechenden Lösungen, die sie akzeptieren konnte.
Und sie freute sich plötzlich. Der Schatten hinter der Scheibe konnte mit Mike zu tun haben. Möglicherweise war er so etwas wie eine Seele von ihm, zurückgekehrt aus dem Reich der Toten.
Dicht vor dem Fenster stoppte Brenda. Sie atmete gegen die Scheibe, sah, daß sie beschlug, und preßte auch ihre beiden Handflächen gegen das kalte Glas.
So blieb sie stehen.
Den Wald konnte sie nicht erkennen. Er war von der Finsternis verschluckt worden. Dort brannte kein einziges Licht. Eine düstere Schatteninsel lag auf dieser Seite des Hauses.
War der Schatten aus dem Wald gestiegen? Hatte er das Böse vielleicht entlassen.
Er kam näher…
Sie sah ihn jetzt genauer und stellte auch fest, daß er nicht nur dunkel war. Ungefähr in der Mitte sah sie einen helleren Fleck, fast wie ein Kopf oder ein Gesicht.
Seltsam…
Er wehte auf das Fenster zu. In der Dunkelheit war die Distanz zwischen ihm und Brenda nicht zu schätzen, aber das Helle kristallisierte sich hervor.
Tatsächlich nur so groß wie ein Kopf oder ein Gesicht. Dunkle Haare oder doch etwas blond?
So genau war es nicht zu sehen, aber der Schatten schwang näher.
Ein Aufwind
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