0688 - Das Hohe Volk
Waffenstillstand zu brechen.
Aber der Mensch zeigte nicht die typische Hinterhältigkeit seiner Spezies, sondern ging beinahe schon entspannt hinter ihm her - ganz so, als habe er nichts zu befürchten.
Das machte Kooranovian nur noch wütender. Mühsam unterdrückte er ein Fauchen und legte einen Schritt zu, um seine Aggressivität durch Anstrengung auszugleichen.
Dass das ein Fehler war, bemerkte er keine Minute später.
Etwas klickte unter dem Absatz seines Stiefels.
Eine Falle, dachte er, dann raste der Speer auch schon auf ihn zu.
Kooranovian konnte nicht mehr ausweichen.
***
Jemand sollte den Architekten erschießen, dachte Nicole grimmig.
Seit Stunden kletterte sie die unregelmäßigen, ausgewaschenen Stufen empor, deren Abstände scheinbar willkürlich bestimmt worden waren. Ihre Schuhe hatte die Dämonenjägerin schon längst ausgezogen. Barfuß bewegte sie sich wesentlich sicherer auf den glatten Steinen.
Der Turm war noch nicht näher gekommen, was eigentlich unmöglich war. Das konnte nur bedeuten, dass Magie im Spiel war. Vielleicht war der Turm überhaupt nur eine Illusion, und in Wirklichkeit erwartete sie am Ende der Treppe etwas ganz anderes.
Kurz dachte Nicole daran, das Amulett zu rufen, verwarf die Idee aber wieder. Eine innere Stimme sagte ihr, dass Zamorra ebenfalls in diesem Phänomen war und diese Zauberwaffe vermutlich dringender brauchte.
Weil er garantiert mal wieder in der größeren Bredouille steckte, wie es für ihn typisch war…
Sie sah kurz zurück zum Boden, der ihr in der sternenklaren Nacht unendlich weit entfernt vorkam. Kein Wunder, dass die Neandertaler ihr nicht hier hinauf gefolgt waren. Selbst wenn man vollkommen schwindelfrei war, konnte einem die Höhe schon den Schweiß auf die Stirn treiben.
Nicole sah zurück zum Turm und stutzte.
Er befand sich unmittelbar vor ihr!
Von einem Moment zum anderen!
Gerade noch eine Ewigkeit entfernt, und jetzt zum Greifen nahe!
Sie stieg auch die letzten beiden Stufen hinauf und bemerkte überrascht ein großes, einladend wirkendes Tor, das sich von unsichtbarer Hand bedient vor ihr öffnete.
Misstrauisch blieb Nicole davor stehen. Sie wünschte sich, wenigstens ein Schwert aus dem Dorf mitgenommen zu haben. Waffenlos, wie sie war, fühlte sie sich beinahe hilflos.
Hinter dem Tor lag tiefe Dunkelheit.
Mit vorsichtigen Schritten überquerte Nicole die Schwelle, die sie von der Treppe in den Turm führte.
Es wurde schlagartig hell.
Nicole stockte der Atem, als sie die Halle sah, in der sie gelandet war.
Die Pracht und die Schönheit, von der sie umgeben war, erinnerte sie an Bilder aus chinesischen Kaiserpalästen. Der Architekt mochte bei der Treppe versagt haben - aber hier hatte er sich selbst übertroffen.
Überall blitzte Gold und Silber. Wasser, Bäume, Marmor und Diamanten fügten sich zu einer perfekt abgestimmten Harmonie zusammen, die Ruhe und Kraft ausstrahlte.
Der Eisenring, der aus der Wand auf Nicole zuschoss, zerstörte das Bild in einem Sekundenbruchteil.
Nicoles Augen weiteten sich.
***
Wrishta hockte mit den anderen Dorfbewohnern vor einem großen Feuer, dem es nicht gelang, die Kälte, die sie alle spürten, zu vertreiben.
Ihr Vater Iyokul ging nervös vor seinem Stamm auf und ab. Nach einer Weile, die von den anderen schweigend hingenommen wurde, räusperte er sich.
»Heute Abend ist etwas passiert, was noch keiner von uns erlebt hat«, sagte er. »Ihr alle wisst das. Die fremde Frau mit dem merkwürdigen Aussehen muss ein Omen gewesen sein, ebenso wie der…« Er zögerte. »… Tote, der aus der Luft gefallen ist. Das Hohe Volk will uns etwas sagen.«
»Aber wie kann das Hohe Volk zulassen, dass einer, der unter ihnen lebt, getötet wird? Schenken sie uns denn nicht die Unsterblichkeit?«
Die Zwischenfrage wurde mit zustimmendem Gemurmel aufgenommen.
Iyokul schüttelte den Kopf. »Was sie uns schenken, können sie auch wieder nehmen. Sie sind das Hohe Volk. Es gibt kein Gesetz, das über ihnen steht.«
Wrishta starrte nachdenklich in die Flammen. Ihre Gedanken kreisten um Cylas, der ebenfalls dort oben war.
Bis zu dem Moment, als der Tote im Staub landete, war Wrishta wie alle anderen davon ausgegangen, dass auf die Auserwählten die Glückseligkeit wartete. Aber jetzt waren Risse in ihrem Weltbild entstanden. Was, wenn das Hohe Volk nicht so gütig war, wie sie angenommen hatten?
»Vielleicht«, unterbrach Iyokul ihre Gedanken, »war es falsch, die fremde Frau opfern zu wollen. Das
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