0688 - Das Hohe Volk
Wandbehänge. Diamanten wurden abgesprengt, Gold fiel in den kleinen Bach, der aufschäumend über die künstlichen Ufer trat und die Halle überflutete.
Weißer Staub senkte sich auf den Boden und vermischte sich mit dem Wasser zu einer glitschigen Schicht.
Die ineinander verhakten Eisenteile drehten sich ein letztes Mal und fielen dann mitsamt einem Mauervorsprung auf den Boden.
Es wurde ruhig.
Ups, dachte Nicole und richtete sich vorsichtig auf.
Die Kette tanzte immer noch klirrend an ihrer Aufhängung, hatte sich aber in Bewegung gesetzt.
Die Dämonenjägerin sah nach oben und entdeckte eine Schiene, durch die die Kette geführt wurde und die anscheinend tiefer in den Turm hineinführte.
Offensichtlich sollten die Gefangenen, die man in Eisen gelegt hatte, mit diesem System an einen bestimmten Ort gebracht werden.
Vielleicht war dort auch Zamorra.
Nicole entschied sich, dem Schienensystem zu folgen.
Nicht an der Kette, sondern aus freiem Willen.
Aber sie wusste nicht, was sie dort erwartete.
***
Das Hohe Volk bestand darauf, ihn als Aufseher zu bezeichnen. Dabei mochte er dieses Wort nicht besonders, hätte es vorgezogen, wenn die Diener ihn einfach bei seinem Namen genannt hätten.
Der Aufseher hieß Farnod, aber er konnte sieh nicht daran erinnern, wann ihn jemand das letzte Mal so gerufen hatte. Jetzt nannten sie ihn nur noch Aufseher - oder Dreckschwein, wenn die Diener glaubten, er höre sie nicht.
Anfangs hatte ihn das gestört, aber inzwischen akzeptierte er es als Teil seines Berufs. Er machte den Dienern Beine, damit das Hohe Volk mit seiner Arbeit zufrieden sein konnte.
Nur dass es heute nicht so richtig funktionieren wollte.
Zuerst die Probleme mit den Maschinen, dann das Fiasko mit dem getöteten Diener, und jetzt kam ihm auch noch ein dahergelaufener Stammeskrieger dazwischen, der mit seinen Widerworten den ganzen Tag durcheinander brachte. Zu allem Überfluss schien der auch noch das Gehör des Hohen Volkes gefunden zu haben, denn die hatten ihn, Farnod, ausgeschickt, die Ideen des neuen Dieners in die Tat umzusetzen.
Verrückte Ideen.
Unnütze Ideen. Die Diener würden den Respekt vor ihm verlieren, wenn sich herausstellte, dass einer von ihnen ungestraft widersprechen durfte.
Der Aufseher fluchte, als eine Lampe auf seinem Holzpodest rot blinkte. Am Eingang des Turms war anscheinend ein Alarm ausgelöst worden.
Vermutlich gab es wieder eine Fehlfunktion bei den Stimmen der Vögel. Die waren besonders empfindlich und mussten ständig gewartet werden.
»Als ob ich nicht schon genug zu tun hätte«, murmelte Farnod verärgert und steuerte sein Podest durch den breiten Gang, der zum Eingang führte.
Als er die Halle erreichte, wäre er vor Schreck beinahe gegen die Wand geprallt.
Es herrschte Chaos.
Das Wasser des Baches bedeckte den Boden mittlerweile knöchelhoch und spülte Trümmer und Diamanten tiefer in die Gänge hinein. Der gesamte Mechanismus schien außer Kontrolle geraten zu sein.
Farnods Hände flogen förmlich über die Hebel und Tasten auf seinem Podest. Er wusste nicht, was geschehen war und warum, nur eine Tatsache stand deutlich vor seinem geistigen Auge: Wenn das Hohe Volk davon erfuhr, würde sich ein Eisenring um seinen Hals legen.
In seiner Panik fiel ihm nur ein Ausweg ein.
Er schaltete den Mechanismus ab.
Kurz sah er sich um, als fürchte er, das Hohe Volk könne seine Tat bemerkt haben. Aber sie kamen nie in diesen Teil des Turms, sondern blieben stets hinter der Nebelwand verborgen.
Farnod verließ die Eingangshalle. Er würde später ein paar Diener dorthin bringen, um das Chaos zu beseitigen. Das Hohe Volk durfte nicht erfahren, was vorgefallen war. Niemals!
Um den ungesicherten Eingang konnte er sich später kümmern.
***
Wrishta betrat vorsichtig den Turm.
Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber die halb überflutete, zertrümmerte Halle erfüllte nichts von dem. Wenn das Hohe Volk so viel Macht besaß, wieso ließ es dann zu, dass so etwas passierte?
Die junge Frau wagte sich tiefer in die Halle vor. Das kalte Wasser umspielte ihre nackten Füße. Dreck und Steine bohrten sich in ihre Haut, aber sie spürte das kaum.
Ihr wurde immer klarer, dass sie nicht nur in den Turm gekommen war, um mit dem Hohen Volk zu sprechen, sondern dass sie vor allem Cylas befreien wollte.
Er war ein guter Mann, der es nicht verdient hatte, in diesem Schmutz weit entfernt von der Welt zu leben.
Wrishta wusste nicht, wie ihr das gelingen
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