0695 - Blut an bleichen Lippen
nichts getan hatte. Sie stand nur da.
Und wie sie dastand!
Sie war bleich, sie war grau, sie trug ein langes Kleid, das wie ein dünner Schleier wirkte, als wäre dieser aus dem Licht eines strahlenden Sterns gewebt worden.
Und sie hatte ein Gesicht.
Es sah furchtbar aus. Es war knochig und eingefallen, mit einer Haut so dünn wie Papier. Die Haare standen hoch wie die Zinken eines bleichen Kammes.
Dann waren da noch ihre Augen. Nichts anderes als blasse Kugeln, die jemand in die Höhlen geschoben hatte. Keine Ovale, sondern Kreise, rund und gnadenlos.
Ihre Arme hielt sie vom Körper abgespreizt, die Hände ebenfalls, lange Finger wirkten wie bleiche Knochenmesser.
War sie ein Mensch, ein Gespenst, ein Geist - oder war sie alles drei gemeinsam?
Mandy Miller fand keine Antwort. Ihr fehlte auch die Kraft, dieses Wesen zu fragen.
Sie blieb liegen, starr, einfach unfähig, etwas zu tun, denn sie ahnte, daß sie bei dem weiteren Geschehen nur eine Statistenrolle eingenommen hatte.
Nicht so der Mann.
Er war gekommen, um seinen Trieb zu befriedigen, und er wollte es wieder wissen.
Außerdem hatte er sein Messer.
Mit einer schwungvollen Bewegung verließ er das Bett, blieb stehen und warf die Klinge in die Luft, wo sie sich überschlug, bevor er sie geschickt wieder auffing.
Dann ging er auf die Person zu.
»Wer immer du bist!« keuchte er. »Ich hasse es, wenn mich jemand küssen will, den ich nicht mag. Und dich mag ich nicht.« Seine Augen funkelten, er hatte den ersten Schock überwunden und wollte die Entscheidung herbeiführen.
Für Mandy Miller stand fest, daß er verlieren würde. In ihren Augen war er jetzt schon tot, nur mehr ein Leichnam, der auf zwei Beinen daherwandelte.
Er hatte durch seine Tat den Tod herausgefordert, und der Tod würde nicht kneifen.
Die Gestalt ließ ihn kommen. Nichts bewegte sich in ihrem bleichen Knochengesicht. Der Mund stand offen und bildete ein Loch. Vor dem Messer schien sie keine Angst zu haben. Bei einer hastigen Bewegung der rechten Hand verlor sich ein Lichtstrahl auf der Klinge und ließ sie für einen Moment aufblitzen.
Wenn er noch zwei Schritte ging, hatte er die Person erreicht. Dann stand er nahe genug, um die Klinge in den Körper rammen zu können. Er würde sie von unten nach oben ziehen und ihn aufschlitzen wie einen alten Sack, das Leben herausfegen, ihn ausbluten lassen und…
Ihre schlimmen Gedanken stockten, als sie erkannte, daß sich das Wesen bewegte.
Nur die rechte Hand kantete es hoch. Was es damit bezweckte, war keinem klar, aber der Kerl hielt dies als Zeichen für einen Angriff. Er stieß zu. Hart und ohne Rücksicht rammte er das Messer in die bleiche Gestalt, und Mandy konnte nicht mehr. Aus ihrem Mund löste sich ein Schrei. Sie erwartete, Blut zu sehen, das fontänenartig aus der Wunde spritzte und den Boden bedeckte.
Kein Tropfen drang aus der Wunde.
Das Messer hatte nichts ausrichten können. Die Gestalt war nicht einmal geritzt worden.
Sie stand da, sie schaute, sie lachte auch nicht, sie nahm es gelassen hin.
Im Gegensatz zu dem Kerl.
Seine rechte Hand war zurückgezuckt. Ein unartikulierter Laut drang aus seinem Mund. Als menschlich war er nicht zu bezeichnen, so jammerte höchstens ein Tier.
Er ging dabei zurück. Drehte einmal den Kopf, um Mandy anschauen zu können.
Sie saß jetzt auf dem Bett und hielt die beiden Hälften des T-Shirts vor der Brust zusammen.
»Küssen!« sagte die Gestalt mit ihrer hohlen Grabesstimme. »Wolltest du mich nicht küssen?«
»Verdammt, ich…«, er holte saugend Luft.
»Na los!«
Der Kerl schwitzte, als wäre über ihm ein Eimer mit Öl ausgegossen worden. Er wußte überhaupt nicht mehr, was er denken sollte, denn er war völlig von der Rolle.
Seine Blickrichtung veränderte sich.
Er schaute gegen die schmale Ausgangstür.
Sie lag nicht weit entfernt, er mußte nur unter den Duschköpfen hereilen. Aber für ihn zu weit. So ohne weiteres kam er an der Gestalt nicht vorbei, die jetzt vorkam und keinen Laut dabei verursachte. Sie ging tatsächlich wie ein Geist.
Und der Mann lief.
Er startete wie ein Sprinter, dabei entluden sich sein Frust und seine Angst in einen gewaltigen Schrei, dessen Echos von den kahlen Wänden widerhallten.
Schaffte er es?
Erst nach drei Schritten bewegte sich die Gestalt. In diesem Augenblick glaubte Mandy, einen schrecklichen Film zu erleben. Sie hob einen Arm und preßte die Hand gegen die Lippen, als wollte sie etwas zurückhalten, das unbedingt
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