0695 - Blut an bleichen Lippen
gegen ihr Gesicht. Erst jetzt, als sie die Kälte und Nässe auf ihren Wangen spürte, fiel ihr auf, daß sie geweint hatte. Zuvor hatte sie es nicht gemerkt.
Sie ging, sie lief, dann rannte sie.
Alles war besser als diese verdammte Kaue, in der ein Mann durch ein Gespenst ermordet worden war…
***
Daß sich mein Kreuz meldete, damit mußte ich zwar immer rechnen, aber in den letzten Sekunden hatte ich daran nun wirklich nicht gedacht und mich allein auf die Worte des Küsters konzentriert und natürlich auf meine sichtbare Umgebung.
Ich mußte Mason Walker den Gefallen tun und ihm erklären, daß ich etwas spürte.
Er wollte es zunächst kaum glauben, schluckte, bevor er flüsterte: »Echt? Oder sagen Sie das nur so?«
»Nein, ich spüre es.«
Vor Aufregung atmete er hektisch und rieb sogar seine Hände. Es war verständlich. Endlich hatte er den Beweis angetreten, endlich wußte auch ein fremder Bescheid. »Ich habe es doch gesagt, Sir. Aber was genau spüren Sie?«
»Eine Warnung…« Mehr sagte ich nicht und ließ ihn erst einmal mit seinen Überlegungen allein.
In der Kirche war es kalt.
Okay, das war eine Folge auch der Außentemperatur, aber es kam noch etwas hinzu. Eine bestimmte Kälte, die mit der draußen nichts zu tun hatte.
Kälte aus dem Unsichtbaren, aus einem Reich hinter unserer Welt. Kälte, die ein Geist mitbrachte.
Mein Kreuz hatte sich gemeldet, es spürte die Anwesenheit des anderen, möglicherweise der Gefahr für Leib und Seele, und ich ging davon aus, daß sich auch eine transzendentale Erscheinung auf einen bestimmten Punkt konzentrieren würde.
Das war die Stelle hinter dem Altar, wo einmal die blutige Rose gelegen hatte.
Ich ging dort nicht hin, aber ich drehte mich so, daß ich sie genau beobachten konnte.
Der Küster blieb stehen. Er war aufgeregt, ich hörte es daran, wie er atmete.
Auch ich stand unter einer gewissen Spannung und dachte darüber nach, was sich hier ereignete.
Ganz simpel ausgedrückt, war es ein Besuch aus dem Geisterreich, aus einer Welt, die zwischen der Sichtbaren und dem Jenseits liegt.
Vielleicht der Geist, der nach dem Tod eines Menschen durch unglückselige Umrisse keine Ruhe gefunden hatte, so etwas gab es schließlich, das hatte ich schon erlebt. Aber auch, daß Vorgänge dieser Art nie grundlos eintraten, es gab immer ein Motiv, einen Hintergrund, der oft genug von Menschen, die mit diesem Gebiet nichts zu tun hatten, belächelt wurde.
War er da? War der Geist vorhanden? Würde er sichtbar werden, würde er zurückschrecken, denn auch er mußte spüren, daß hier jemand stand, der seinen Indikator bei sich trug, das war das Kreuz.
Ich hatte gut daran getan, mich auf den Ort zu konzentrieren, wo sich die Magie sammelte. Und genau dort materialisierte sich die Rose. Für einen winzigen Moment nur erschien sie, und an anderer Stelle gab der Küster einen erstickt klingenden Laut von sich.
Ich konzentrierte mich auf die Blume. Sie sah wunderschön aus, glänzte in einem tiefen Rot, das Ähnlichkeit mit geronnenem Blut aufwies.
Sie war wunderschön. Kein Maler hätte sie besser zeichnen und keine Spielart der Natur sie besser hervorbringen können. Ein wunderschönes Objekt, das jedoch nur für wenige Sekunden blieb und sich dann vor meinen Augen auflöste.
Auf einmal war die Rose weg.
Sie ja, aber nicht das Blut.
Zwischen Fußboden und Kirchendecke, etwa in der Höhe eines ausgewachsenen Menschen, tropfte es nach unten.
Der Vorgang zog mich in seinen Bann. Blut fiel aus dem Unsichtbaren, es berührte jeder Tropfen den Kirchenboden, wo er mit einem satten Laut zerplatzte und Flecken bildete, die an den Rändern ausfaserten, kleine Arme bekamen, die an ihren Enden gesprenkelte Flecken aufwiesen, wobei sie auf den Steinen als makabres Muster zurückblieben.
Noch ein letzter Tropfen fiel, dann war es vorbei.
Die Stille wurde von den heftigen Atemzügen des Küsters unterbrochen, der zwischendurch noch stöhnte, mir zunickte und flüsterte: »Ich habe es Ihnen doch gesagt, Sir, ich habe es Ihnen gesagt! Es… es ist eine Tatsache, mein Gott…« Er verdrehte die Augen und schaute gegen die Decke, als könne er von dort Hilfe erwarten.
Aber es kam nichts, wir mußten uns schon auf uns selbst verlassen.
Ich hatte mich bisher nicht gerührt und ging erst jetzt zwei Schritte vor.
Mein Kreuz gab keine Warnung ab, die andere Magie hatte sich zurückgezogen.
Auch der Küster kam näher. Seine Sohlen schlurften über den kalten Boden.
Die
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