0695 - Blut an bleichen Lippen
hinaus wollte.
Sie sprang ihm in den Weg.
Er stieß zu.
Vergebens!
Und dann erwischten die Klauen ihn. Sie waren wie Schraubzwingen, die Schultern und die Oberarme umfaßten, und sie ließen ihn nicht los. Sie schüttelten ihn durch, wobei sich das fürchterlich bleiche Gesicht dem des Mannes näherte.
Wieder hallten die Worte dumpf durch die alte Kaue. »Wolltest du mich nicht küssen? Wolltest du nicht…?«
»Nein!« brüllte er.
»Doch!«
Nicht er küßte, sondern sie tat es.
Blitzschnell beugte sie das Gesicht vor. Dabei riß sie den Mund noch weiter auf.
Und dann küßte sie.
Nein, es war kein Kuß, auch wenn es den Anschein gehabt hatte. Es war ein Biß, brutal und schmerzerfüllt, so daß der Mann aufschrie, seinen Kopf schüttelte und das Blut nach allen Seiten spritzte.
Er taumelte rückwärts, sein Messer hatte er verloren. Die Frau aber ging ihm nach. Sie sprach mit der schreckensstarren Mandy, die sich auf dem alten Bett nicht bewegen konnte. »Er wollte mich nicht küssen. Ich finde es schade. Jetzt wird er dafür bezahlen«.
Mandy wollte fragen, ob sie den Mann töten wollte, aber sie bekam keinen Laut hervor.
Und so schaute sie weiter zu und erlebte die grauenvollsten Sekunden ihres Lebens.
Das Gespenst war nicht zu halten und ging mit dem Mann wie mit einer Puppe um.
Er wehrte sich auch nicht. Wenn er irgendwelche Abwehrbewegungen machte, dann sahen diese müde aus, wirkten halbherzig. Zudem mußte er große Schmerzen haben. Sein Gesicht schimmerte in der unteren Hälfte rot vor Blut. Es kam Mandy so vor, als würde die andere Person nur mit ihm spielen. Außerdem wußte sie nicht, ob sie einen Geist vor sich hatte oder irgendeinen Roboter. Es gelang ihr einfach nicht, sich für den einen oder anderen Begriff zu entscheiden. Vielleicht war sie eine Mischung aus beidem, eine Person, die mit normalen Worten kaum zu beschreiben und Mandy vorkam wie ein Schutzengel.
Aber morden Schutzengel?
Bestimmt nicht. Sie kannte den Begriff nur aus ihrer Kindheit, wußte kaum mehr, etwas damit anzufangen, aber sie bekam allmählich immer größere Angst, daß dieses Wesen sich auch an ihr vergehen würde, wenn sie nicht achtgab.
Sie wartete…
Die Sekunden vergingen, durchdrungen von schrecklichen Geräuschen, denn ihre Helferin schleuderte den Kerl quer durch die Kaue, riß ihn immer wieder hoch und wuchtete ihn in eine andere Richtung, wobei er mal mit der Wand und dann wieder mit dem Fußboden kollidierte.
Mandy selbst konnte dies nicht sehen, weil es außerhalb des Lichtscheins geschah, wo sich die tiefen Schatten zusammenballten. Dafür hörte sie die Geräusche, und die wiederum gingen ihr unter die Haut und ließen sie zittern.
Noch einmal schrie der Mann auf. Es war ein furchtbarer Ton, gar nicht mal laut, aber schrecklich, denn er hörte sich an, als wäre es der letzte im Leben eines Menschen.
Und so war es dann auch.
Es wurde so still, daß Mandy ihren eigenen Herzschlag überlaut hörte. Die Echos klopften gegen die Rippen, und nicht einmal ein letztes Röcheln vernahm sie.
Dafür wieder Schritte.
Es war wie beim ersten Erscheinen der Gestalt. Auch jetzt kamen sie aus der Dunkelheit.
So geheimnisvoll, so schleifend. Mandy wollte es nicht, sie fing an zu zittern, und ihre Zähne klapperten aufeinander. Was war, wenn sie sich geirrt hatte, wenn dieses Wesen nicht nur auf den Mann, sondern auch auf sie fixiert war.
Noch eine Tote? Sie ging einfach davon aus, daß der Mann nicht mehr lebte.
Aus dem Dunkel kam sie. Wie ein gezeichnetes Gespenst schälte sie sich hervor. Mandy Miller kam sie so vor, als wäre sie da und trotzdem nicht vorhanden.
Mensch oder Geist?
Sie blieb stehen.
Beide schauten sich an.
Mandy zitterte, die andere blieb ruhig. Nichts war ihr davon anzumerken, daß sie einen Mord begangen hatte.
Und Mandy wunderte sich, woher sie den Mut nahm, überhaupt eine Frage zu stellen. Tief holte sie zuvor Luft, nur um diesen einen Satz hervorzupressen. »Wer… wer… bist du?«
Die Person lächelte nur und tat so, als wollte sie nicht sprechen. Dann aber sagte sie etwas, wobei Mandy überlegte, ob sie überhaupt eine menschliche Stimme hörte. »Du kannst gehen…«
Nicht mehr, nicht weniger.
Aber Mandy blieb auf dem Bett hocken. Sie saß jetzt auf der Kante. Die Füße berührten zwar den Boden, dennoch hatte sie den Eindruck, als würden sie in einem luftverdünnten Raum schweben, ohne irgendwelchen Kontakt mit einem festen
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