0695 - Blut an bleichen Lippen
Untergrund.
»Aber…«
»Geh!«
Mehr sagte sie nicht. Mandy erfuhr auch nicht den Namen ihrer Retterin, die Person blieb einfach stumm. In der schattigen Dunkelheit der Kaue wirkte ihr Gesicht wie mit einer hellen Bleistiftmine gezeichnet, wobei der Umriß dann durch einen weiteren Bleistift schraffiert worden war. Sie erkannte keinen Mund, keine Nase, nur die Augen, die rund und glotzend unter der Stirn lagen, und deren Farbe denselben Ton aufwiesen wie die grauen Haare. Sie sahen aus, als wären sie mit Asche bestreut worden, die dann festgebacken war.
Mandy konnte nicht.
Dafür ging die andere.
Sie drehte sich wortlos um und schritt nicht der Eingangstür entgegen, dafür ging sie dorthin, wo sich eine Mauer befand, ein Hindernis, was für sie keines zu sein schien, denn Mandy hörte ihre Schritte auf einmal nicht mehr.
Es wurde still…
Furchtbar still, ihrer Meinung nach.
Sie hörte sich selbst atmen und Luft holen, etwas wischte an ihrem Gesicht vorbei wie ein heftig flatternder Flügel, und sie gestand sich selbst ein, daß sie wohl einer Einbildung erlegen war.
Wie lange sie auf der Bettkante gehockt hatte, wußte sie nicht zu sagen. Steif drückte sie sich in die Höhe. Ihre Bewegungen hatten etwas Roboterhaftes an sich, sie starrte ins Leere, ging zwei, drei zögernde kleine Schritte, um dann stehenzubleiben, als wäre ihr ein plötzlicher Gedanke gekommen.
In der Tat war es ein Gedanke gewesen, und sie ließ ihre Hand in die rechte Tasche der Lederjacke gleiten, wo ein schmales Feuerzeug steckte. Gern tat sie es nicht, aber sie wollte Gewißheit darüber haben, was mit dem Mann passiert war.
Obwohl er erschienen war, um ihr Gewalt anzutun, spürte sie Mitleid mit ihm. Es war ihr, als wäre ein verkrusteter Damm aufgebrochen, der dann eine Flut herausgelassen hatte. Zum erstenmal seit langem konnte sie wieder Gefühle zeigen.
Sie ging und hörte nur ihre eigenen Schritte, die schwache Echos hinterließen.
Mandy kamen sie vor, als würden sie aus einer anderen Welt an ihre Ohren dringen.
Sie ging in die Richtung, in der auch der Mann in der Dunkelheit verschwunden war.
Noch hielt sie das kleine Feuerzeug normal in der Hand. Erst als die Wand schwach aus der Dunkelheit auftauchte, da bewegte sie den Daumen und drehte das Rad.
Erste Funken sprühten, dann fing das Gas Feuer, und eine kleine Flamme stach hervor.
Sie bildete einen schwachen Kreis, der sich erweiterte, als Mandy den Arm vorschob.
Der Flammenkreis huschte über die Wand, die zwar leer war, aber an einer bestimmten Stelle sah sie etwas Dunkles, das aus einer gewissen Höhe nach unten rann.
Mandy preßte die Lippen zusammen, denn sie wußte, daß es das Blut des Mannes war.
Sekunden danach sah sie ihn.
Er lag auf dem Boden, saß allerdings noch in einer gewissen Haltung und lehnte mit der Schulter an der Wand. Sein Kopf war zur Seite geknickt, sie konnte den oberen Teil seines Gesichts erkennen, der aussah wie von einer bleichen Farbe angestrichen.
Die Augen waren starr, leer, blicklos. So sahen nur die Augen eines Toten aus.
Mandy schauderte zusammen. Sie spürte die Hitze an ihrem rechten Daumen und konnte die Flamme nicht mehr länger halten. Als sie zusammensank, kehrte auch die Dunkelheit zurück und umfing sie wie ein gewaltiger Lappen.
In ihrem Hirn hämmerten die Gedanken, und die wiederum sagten ihr, daß sie mit einem Toten in dieser verlassenen Kaue einer stillgelegten Fabrik allein war.
Ein Mensch war auf eine furchtbare Art und Weise umgebracht worden, und sie war Zeugin geworden.
Erst jetzt wurde ihr die Tragweite dessen bewußt. Was aus ihrem Mund drang, war nicht mehr als ein leiser Wehlaut. Der Schmerz, den auch sie spürte, mußte sich einfach freie Bahn schaffen.
Sie konnte nicht mehr.
Mandy merkte kaum, daß sie sich umdrehte und dabei das schmale Feuerzeug verlor.
Sie ging dann weg, und sie lief wie eine Schlafwandlerin. Daß sie den Ausgang sofort fand, kam ihr vor wie ein Zufall, aber sie blieb einmal bei dem eingeschlagenen Weg.
In der großen leeren Halle stolperte sie über die Kante eines der leeren Sockel, fiel hin, raffte sich wieder auf und stellte fest, daß das dünne Leder an ihrem rechten Hosenbein aufgerissen war. Sie wollte den Ort des Todes so schnell wie möglich verlassen.
Irgendwann war sie draußen.
Über der Stadt hatte sich der Himmel verdichtet. Da schoben sich die grauen Wolken ineinander, als wollten sie drohend und strafend auf sie herabschauen.
Der Wind strich kühl
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