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07 - Asche zu Asche

07 - Asche zu Asche

Titel: 07 - Asche zu Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Minuten verrannen im Schneckentempo. Sie wollte mich eine Weile schmoren lassen. Sie wollte diesen Sieg auskosten. Ich hätte es ihr gern heimgezahlt, aber ich wußte nicht genau, wie ich das bewerkstelligen sollte.
    Ich stand von dem Stuhl am Sekretär auf, stellte mich hinter meine Gehhilfe und schlurfte in Richtung Sofa. Ich schaffte die gefährliche Drehung, die nötig war, damit ich mich auf dem abgewetzten Plüsch niederlassen konnte, und als ich aufblickte, sah ich Mutter mit dem Teetablett in den Händen an der Tür stehen. Schweigend sahen wir einander an.
    »Lange nicht gesehen«, sagte ich schließlich.
    »Sechs Jahre, zwei Wochen und vier Tage«, erwiderte sie.
    Ich zwinkerte und drehte den Kopf zur Wand. Immer noch hing dort dieses Durcheinander von japanischen Drucken, Miniaturen toter Whitelaws und ein unbedeutender alter Meister der flämischen Schule. Ich hielt den Blick auf dieses Gemälde gerichtet, während Mutter ins Zimmer kam und das Teetablett auf einen Spieltisch vor dem Chesterfield-Sofa stellte.
    »Wie früher?« fragte sie mich. »Milch und zwei Stück Zucker?«
    Verdammt, verdammt, dachte ich und nickte. Ich starrte das flämische Gemälde an: ein Zentaur mit erhobenen Vorderfüßen, der eine Frau auf seinem Rücken trug. Sie schienen es beide so zu wollen, das monströse Fabelwesen und die Frau, die seine Beute war. Sie wehrte sich nicht einmal gegen ihn, machte keinen Versuch, ihm zu entkommen.
    »Ich habe eine Krankheit, die ALS heißt«, gestand ich.
    Hinter mir hörte ich das tröstliche und so vertraute Geräusch, das beim Eingießen von Tee entsteht. Es klirrte leise, als die Tasse mit der Untertasse auf den Tisch gestellt wurde. Dann stand sie neben mir, legte ihre Hand auf die Gehhilfe.
    »Setz dich«, sagte sie. »Hier ist dein Tee. Soll ich dir helfen?«
    Ihr Atem roch nach Alkohol, und ich begriff, daß sie sich für diese Begegnung gestärkt hatte, während sie sich umgezogen und den Tee gemacht hatte. Es tröstete mich, das zu wissen. Wieder sagte sie: »Brauchst du Hilfe, Olivia?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Nachdem ich mich auf das Sofa gesetzt hatte, rückte sie die Gehhilfe zur Seite. Sie reichte mir die Teetasse, stellte sie auf mein Knie und hielt sie dort, bis ich selbst Zugriff.
    Sie trug einen marineblauen Morgenrock und sah nun eher wie die Mutter aus, die ich kannte.
    »ALS?« fragte sie.
    »Ich habe die Krankheit seit ungefähr einem Jahr.«
    »Sie behindert dich beim Gehen?«
    »Im Augenblick, ja.«
    »Was heißt: im Augenblick?«
    »Vorläufig behindert sie mich nur beim Gehen.«
    »Und später?«
    »Stephen Hawking.«
    Sie hob ihre Teetasse, um zu trinken. Über ihren Rand hinweg begegneten sich unsere Blicke. Langsam setzte sie die Tasse wieder in die Untertasse, ohne den Tee angerührt zu haben. Sie stellte das Gedeck auf den Tisch und war dabei in ihren Bewegungen so behutsam, daß sie nicht das kleinste Geräusch machte. Sie ließ sich auf der Ecke des Chesterfield-Sofas nieder. Wir saßen im rechten Winkel zueinander, unsere Knie berührten einander beinahe.
    Ich wünschte mir, sie würde etwas sagen. Aber ihre einzige Reaktion bestand darin, die rechte Hand zu heben und die Finger an die Schläfe zu drücken.
    Ich überlegte, ob ich anbieten sollte, daß ich ja ein andermal wiederkommen könne. Statt dessen sagte ich: »Zwei bis fünf Jahre. Sieben, wenn ich Glück habe.«
    Sie ließ die Hand sinken. »Aber Stephen Hawking -«
    »Er ist die Ausnahme. Aber das ist im Grunde sowieso unwichtig, weil ich so nicht leben möchte.«
    »Das kannst du jetzt noch nicht wissen.«
    »O doch, ich kann.«
    »Eine Krankheit gibt einem die Möglichkeit, Leben anders zu definieren.«
    »Nein.«
    Ich erzählte ihr, wie es angefangen hatte, mit dem Stolpern auf der Straße. Ich erzählte ihr von den Untersuchungen, von dem sinnlosen Gymnastik- und Fitneßprogramm, von den Heilern. Zum Schluß erzählte ich ihr vom Voranschreiten der Krankheit. »Sie ist jetzt auf dem Weg in meine Arme«, schloß ich. »Meine Finger werden langsam schwächer. Wenn du dir den Brief ansiehst, den ich dir schreiben wollte -«
    »O verdammt, Olivia!« sagte sie, doch die Worte enthielten keine Spur Leidenschaft. »Verdammt noch mal, Olivia.«
    Jetzt war der Moment für die Predigt gekommen. Ich hatte die Oberhand behalten wollen. Ich hatte siegen wollen. Wie hatte ich nur erwarten können, daß mir das gelingen würde? Ich war nicht als Siegerin heimgekehrt. Ich war angekrochen wie der

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