07 Von fremder Hand
Dingen, die ihr fehlten, ging Gemma durch den Kopf, während sie Faith langsam an der Mauer hochschob. Keine Handtücher, keine Handschuhe, kein Messer, um die Nabelschnur zu durchtrennen... und als ihre Hand die Turmmauer streifte, spürte sie die betäubende Kälte des Steins. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Zähne am Klappern zu hindern, während der eisige Wind ihren Rücken peitschte.
Aber es gab keine Alternative. Immerhin hatte sie im Rahmen ihrer Ausbildung einen Schnellkurs in Geburtshilfe absolviert.
Sie hatte die Hose bis zu den Knöcheln heruntergezogen, als die nächste Wehe einsetzte und Faith in die Hocke sank, den Rücken gegen die Mauer gepresst.
»Gut, und jetzt atme schön«, wies Gemma sie an, während sie nach der Taschenlampe tastete, die sie kurzzeitig vergessen hatte. Aber sie war nutzlos, und mit einem unterdrückten Fluch schaltete Gemma sie aus. Sie würde sich ganz auf ihren Tastsinn verlassen müssen.
Sie langte nach unten und spürte, wie Faith bei der Berührung ihrer Hand zusammenzuckte. »Ist ja schon gut«,beruhigte sie das Mädchen. »Ich will nur fühlen, wie das Baby vorankommt. Ich tu dir nicht weh.« O Gott, war das schon der Kopf des Kindes, den sie da fühlte? Dann ließ die Kontraktion nach. Das Baby wich wieder zurück in die sichere Wärme des Mutterleibs.
Faith ließ sich schlaff gegen die Mauer sinken. Ihre Augen waren geschlossen.
»Alles in Ordnung, Schatz. Du hast es fast geschafft. Das nächste Mal will ich, dass du presst - du musst mit der Wehe drücken, so fest du nur kannst.« Sie legte die flache Hand auf Faiths Bauch und atmete mit ihr, und sie spürte die Wellenbewegung der Muskeln, noch bevor Faith aufstöhnte.
»Also dann, los geht’s. Warte bis zum Höhepunkt der Wehe, dann drückst du.« Sie tastete erneut nach dem Kopf des Babys, während Faith presste. Da war sie, die Schädeldecke, und dann kam der ganze Kopf heraus. Die Kontraktion wurde schwächer. »Atmen!«, ermahnte sie Faith. »Braves Mädchen. Bei der nächsten ist es so weit.«
Als die nächste Wehe einsetzte, fühlte Gemma, wie Faiths ganzer Körper von ihrem Stöhnen erzitterte. Sie versuchte dem Baby herauszuhelfen, aber dennoch schrie Faith vor Schmerz überrascht auf, als die Schultern an die Reihe kamen. Und dann hielt Gemma das Neugeborene in ihren Händen.
Es war feucht und warm... und still. »Oh, lieber Gott...« Verzweifelt wischte sie den Schleim von der winzigen Nase und benutzte dann die Spitze ihres kleinen Fingers, um den Mund des Babys zu reinigen.
Stille.
O Gott, bitte. Gemma betete. Was hatten sie ihr sonst noch beigebracht? Die Reflexe des Babys anregen, das war es. Sie kratzte mit dem Fingernagel an der Sohle des kleinen Füßchens. Noch einmal -
Ein Schrei zerriss die Luft. Ermattet vor Erleichterung, hielt Gemma den winzigen Körper an ihre Brust. Ein zweiter Schrei folgte dem ersten.
»Es ist ein Mädchen. Oh Faith, du hast ein kleines Mädchen!«
»Lass mich - ich will sie halten«, flüsterte Faith.
Als Gemma ein wenig vorrückte, um das Neugeborene vorsichtig in die Arme seiner Mutter zu legen, spürte sie etwas Warmes, Feuchtes unter ihrem Knie. Sie betastete die dunkle Pfütze im Gras. Faith drohte zu verbluten.
Sie würde nicht in Panik verfallen, das durfte sie sich nicht erlauben. »Faith«, sagte sie ruhig, »du musst das Baby unter deine Bluse stecken, damit es warm hat. Leg sie an deine Brust, lass sie saugen. Und du musst dich hinlegen, Schatz. Jetzt zieh die Beine an. Genau. Gut so. Braves Mädchen.« Sie zog ihre Jacke aus und legte sie über Mutter und Kind.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Gebärmutter sich als Reaktion auf das Saugen des Neugeborenen zusammenzog, ein natürlicher Reflex, der die Blutung vielleicht stillen würde. Ein anderes Mittel stand ihr nicht zur Verfügung, und sie hatte auch nichts, womit sie die beiden hätte wärmen können, nichts als ihren eigenen Körper.
Und sie hatte auch keine Möglichkeit, Hilfe zu holen - das schreckliche Ausmaß ihrer Gedankenlosigkeit wurde ihr erst jetzt allmählich bewusst. Sie hatte ihr Handy in ihrer Handtasche gelassen, im Wagen.
Sie kuschelte sich an Faith, um Mutter und Kind so gut es ging vor dem Wind zu schützen, und dann richtete Gemma ihre Taschenlampe zum Himmel und begann sie abwechselnd ein- und auszuschalten.
* 19
Manche von jenen, die als Pilger nach Glastonbury
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