07 Von fremder Hand
Nordseite des Tor hinauf. Das Gelände fiel jäh ab, der Lehm zwischen den heimtückischen Steinen war glatt wie Glas, und es gab kein Geländer.
Gemma machte anfangs den Fehler, ihre Taschenlampe zu benutzen, bis sie feststellte, dass der Lichtkegel zwar den Boden unmittelbar vor ihren Füßen erhellte, sie aber andererseits blind machte für die Windungen des Pfades und sie nicht erkennen ließ, wie nahe sie dem Abgrund war.
Einmal stürzte sie schwer und schürfte sich Hände und Knie auf. Eine gute Minute lang lag sie da und spürte, wie die feuchte Kälte durch ihre Kleidung zog, während sie darauf wartete, dass ihr Herz sich wieder beruhigte. Es machte nichts, dass sie an Höhenangst litt, sagte sie sich, solange sie nicht wissen konnte, wie hoch sie schon gestiegen war.
Danach benutzte sie ihre Hände ebenso wie ihre Füße und versuchte stets den Berghang zu ihrer Rechten zu ertasten.
Trotzdem verkalkulierte sie sich an einer Wegbiegung. Ihr linker Fuß glitt über den Rand weg, und kleine Steine prasselten hallend in die Tiefe. Sie stand keuchend da und versuchte sich zu sammeln; die Aussicht, den Weg wieder zurückzugehen, war jedoch zu abschreckend - sie wusste, auch wenn Faith nicht gewesen wäre, hätte sie nur immer weiter nach oben gehen können.
Endlich griff ihre rechte Hand ins Leere, und als sie ein paar zögerliche Schritte in diese Richtung machte, stellte sie fest, dass der Boden unter ihren Füßen ebener wurde. Sie hatte den Gipfel erreicht. Für einen Augenblick brach das Mondlicht durch die Wolkendecke und erleuchtete den Turm, vor dem sie stand. Dann schoben sich die Wolken wieder vor den Mond; doch die dunkle, gedrungene Silhouette sah sie immer noch vor ihrem inneren Auge.
Wie hatte sie je glauben können, Faith an diesem trostlosen Ort zu finden?
Jetzt benutzte sie die Taschenlampe, um sich Schritt für Schritt vorzuarbeiten, doch in dem Lichtstrahl erblickte sie nur eine spärlich bewachsene Grasfläche - und einmal auch ein aufgeschrecktes Schaf. Als sie Faiths Namen rief, riss ihr der Wind das Wort sogleich von den Lippen. Ein paar Meter vor dem Turm hielt sie inne. Es widerstrebte ihr, näher zu treten, und eine Welle der Verzweiflung überkam sie.
Dann, als der Wind sich für einen Moment legte, glaubte sie einen Schrei zu hören.
»Faith!«
Diesmal war sie sich sicher, eine Antwort gehört zu haben - ein Stöhnen? Oder ein Schluchzen? -, und der Laut war von der anderen Seite des Turmes gekommen. Stolpernd eilte Gemma weiter.
Als sie den Turm umrundet hatte, sah sie an seinem Fuß eine zusammengekauerte Gestalt.
»Faith!«, rief sie erneut und bekam einen Laut zur Antwort, halb Schrei und halb Stöhnen. Gemma kannte diesen Laut und die Urschmerzen, die ihn verursachten. Faith lag in den Wehen.
Das Mädchen saß mit dem Rücken an die Turmmauer gelehnt, sie hatte die Beine gespreizt und die Knie angezogen. Gemma kniete sich neben sie und berührte ihre Wange.
Faith drehte den Kopf zu Gemmas Hand hin wie ein blindes Geschöpf und flüsterte: »Garnet?«
»Nein, Faith, ich bin’s, Gemma. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Jetzt wollen wir dich mal auf die Füße stellen, und dann bringe ich dich runter ins Tal.« Doch als sie dem Mädchen aufzuhelfen versuchte, schrie Faith erneut auf.
Die Panik schnürte Gemma die Kehle zu. Seit der letzten Wehe war weniger als eine Minute vergangen. Sie würden nirgendwo hingehen. Faith würde ihr Baby hier an Ort und Stelle bekommen, und zwar sehr bald. Jetzt atmete sie schwer.
»Atme im Rhythmus! Atme im Rhythmus der Schmerzen!«, forderte Gemma sie auf. »Denk dran, was Garnet dir beigebracht hat.«
Einen Moment lang glaubte Gemma, Faith habe sie nicht gehört; dann gehorchte das Mädchen.
»Braves Mädchen. Jetzt einfach nur entspannen. Und jetzt wieder atmen. Sehr gut!«
Die Kontraktion wurde schwächer, und Faith flüsterte: »Ich kann nicht - ohne Garnet - sie wollen mir mein Baby wegnehmen ... die Alten... allein... allein komme ich nicht gegen sie an.«
»Niemand wird dir dein Baby wegnehmen. Ich bin hier, und ich werde dir helfen. Wir werden dieses Baby zusammen zur Welt bringen. Und das Erste, was wir tun müssen, ist dich von dieser Hose zu befreien.« Die Kleider des Mädchens waren durchnässt, und sie zitterte vor Kälte - sie würde auch nicht viel mehr frieren, wenn sie ihr die Sachen auszog.
Eine ganze Litanei von
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