0702 - Das Stummhaus
dahinter, und Kervin war davon überzeugt, daß jedermann in der Siedlung von dem Krach aufwachen mußte. Er lauschte, aber nichts rührte sich.
Da nahm er allen Mut zusammen und kletterte durch die entstandene Öffnung in das Büro des Polizeichefs.
Mit ausgestreckten Händen tastete er sich vor, bis seine Finger eins der Gewehre berührten.
Er nahm das mittlere und begann mit dem Rückzug, der ein jähes Ende fand, als das Licht aufflammte und Ben mit der Waffe in der Hand durch die Tür trat.
„Der alte Mann!" sagte er verwundert. „Was machst du hier?
Ah, ein Gewehr wolltest du stehlen? Wen willst du umbringen?"
Kervin war so verdattert, daß er seine Beute auf den Tisch legte.
„Ich will niemanden töten, wirklich nicht. Ich wollte nur das Gewehr. Ich habe kein Geld, mir eins zu kaufen."
Ben hatte das Klirren der Fensterscheibe gehört und war sofort wach gewesen. Er hatte im ersten Stock geschlafen. Nun war er ärgerlich, weil er gestört worden war.
„Der nächste Transport nach Melbourne kommt in drei Tagen hier durch. Der nimmt dich mit. Du bist ohnehin reif fürs Stummhaus. Wo ist die alte Frau geblieben, die bei dir war?"
„Sie meinen Ihre Mutter?"
„Ja, die Alte. Sie steckt mit dir unter einer Decke."
Kervin nahm seinen ganzen Mut zusammen.
„Sie werden nie erfahren, wo sie ist. Aus mir bekommen Sie kein Wort mehr heraus."
„Möglich, aber die in Melbourne werden es können. Die haben andere Methoden als ich. Los, geh schon vor! In die rechte Zelle.
Nur werde ich heute abschließen."
Als Kervin ruhelos auf der einfachen Pritsche lag, wußte er, daß alles umsonst gewesen war.
5.
„Es geht ihr schlechter, was sollen wir tun?"
Vester hatte den Puls Jasmins geprüft und legte ihre Hand aufs Bettlaken zurück. Die Frau hatte hohes Fieber. Und die beiden Agenten besaßen nicht die richtigen Medikamente.
„Bleibe bei ihr, ich nehme Verbindung mit unserer Kollegin auf.
Vielleicht weiß sie einen Rat."
„Beeil dich! Sie hält nicht mehr lange durch. Und denke an das Baby! Es wird bald Hunger haben und brüllen wie am Spieß."
Hart nickte und ging.
Vester betrachtete das zusehends blasser werdende Gesicht Jasmins. Soviel verstand er auch von Medizin, um zu ahnen, daß jede Hilfe zu spät, kam. Die junge Frau würde ihre Liebe zu ihrem Kind mit dem Leben bezahlen müssen. Die Anstrengungen waren zu groß für sie gewesen, ganz abgesehen von den seelischen Spannungen, die sie hatte durchstehen müssen.
Dazu die ständige Angst vor Entdeckung - es war einfach alles zuviel für sie gewesen.
Wenn wenigstens das Kind durchkam...!
Der Junge schlief. Er hatte sich noch einmal satt trinken können und war zufrieden. Aber wenn Jasmin starb... versuchte sich vorzustellen, was die Organisation sagen würde, wenn er und Hart statt mit den gewünschten Informationen mit einem Baby im Arm zurückkommen würden. Immerhin war das Kind immun, das war fast immer so, wenn ein Elternteil immun oder nur halbaphil gewesen war. Und solche Kinder mußten gerettet werden.
Zwei Stunden später erschien Hart, ein kleines Päckchen unter dem Arm. Er warf es aufs Bett und sagte: „Nahrung für den Säugling, nur mit Wasser anzurühren. Und Medikamente für Jasmin. Wie geht es ihr?"
„Schlecht. Ich glaube nicht, daß wir sie durchbringen."
„Wir versuchen es. Unsere Agentin hat die entsprechenden Medikamente besorgt, wenigstens zum Teil. Sie hat auch die Zentrale von unseren Schwierigkeiten informiert. Wir sollen Mutter und Kind in Sicherheit bringen, aber auch alles über die Stummhäuser herausfinden. Ich fürchte, man verlangt zuviel von uns."
Sie brauchten Jasmin nicht zu wecken, denn sie erwachte von selbst. Hart gab ihr sofort eine belebende Injektion und ein Stärkungsmittel. Dann lag sie ruhig in den Kissen, ihr Kind in den Armen.
„Ich werde sterben, ich fühle es", flüsterte sie. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben versucht, mir zu helfen, und Sie brachten sich selbst damit in Gefahr. Wenn ich sterbe, was geschieht dann mit meinem Kind?"
„Wir werden für es sorgen, Jasmin. Mein Freund Vester und ich werden es zu unseren Leuten bringen. Dort wächst es unter Menschen auf, die man noch Menschen nennen darf. Aber Sie werden auch leben, Jasmin. Sie werden sehen, die Medikamente wirken bald."
Sie schüttelte den Kopf.
„Sie meinen es gut und wollen mich trösten, aber ich weiß, daß ich nur noch Stunden zu leben habe. Werden Sie mir einen Gefallen
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