0702 - Das Stummhaus
ein wunderbarer Anblick, der längst erloschene Gedanken in ihnen weckte. Sie stiegen jedoch nicht bis zur Oberfläche ihres Bewußtseins empor. Sie warteten hier nur deshalb, weil das Dorf noch schlief.
Als sie die ersten Menschen sahen, gingen sie zu dem Haus, das Kathleen schon kannte. Unterwegs begegneten ihnen Männer und Frauen, aber keine Kinder. Niemand kümmerte sich um sie, niemand grüßte sie. Aber es stellte ihnen auch niemand die Frage, woher sie kämen und wer sie seien.
Der Händler erkannte Kathleen sofort wieder, aber wenn er sich freute, so geschah das nur des zu erwartenden Geschäftes wegen.
„So, Sie besuchen Ihre Verwandten in Yoxter? Wollen Sie Fleisch? Kartoffeln? Bei uns gibt es noch alles. Sogar Brot können Sie haben, wenn Sie Geld besitzen."
„Bis jetzt habe ich immer bezahlt." Er packte die Sachen ein und nahm die Geldscheine in Empfang.
„Ich wundere mich, daß Sie beide noch nicht ins Stummhaus müssen", sagte er, bevor sie das Haus verließen.
Kathleen blieb stehen und drehte sich langsam um.
„Es gibt Ausnahmen, das sollten Sie wissen. Aber sicherlich wird es nicht mehr lange dauern. Deshalb unternehmen wir ja auch diesen Ausflug."
Er nickte.
„Das würde ich wahrscheinlich auch tun, bevor ich mich umbringen lasse", sagte er ohne jede Betonung.
Sie schlugen die Richtung nach Osten ein, und als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, fragte Kervin: „Ob der etwas gemerkt hat? Ich meine, er hat so komische Fragen gestellt."
„Ach was, was soll er denn gemerkt haben, Kervin? Du mußt nicht so ängstlich sein und jedem mißtrauen. Er war neugierig, das ist alles. Geh ein bißchen schneller, wir müssen heute noch die Steppe erreichen."
„Gibt es noch Steppe?"
„Genug, um sich darin wochenlang zu verstecken. Es wird dir gefallen, Kervin, und mit unseren Vorräten kommen wir lange genug aus. Dann besorgen wir uns neue."
Sie wanderten den ganzen Tag, obwohl es gegen Mittag sehr heiß wurde. Sie legten nur eine kurze Pause ein, dann trieb Kathleen ihren Begleiter wieder an. Straßen gab es hier keine, nur kleine Pfade, von denen man nicht wußte, ob sie von Menschen oder Tieren stammten. Das Gras wuchs hoch, und manchmal spendeten niedrige Buschwälder ein wenig Schatten.
Fern am östlichen Horizont tauchte ein dunkler Streifen auf.
„Sieht nach Regen aus", vermutete Kervin unsicher.
Sie lachte.
„Regen kann es gelegentlich auch geben, wenn die Wetterkontrolle es für richtig hält. Aber das, was du dort siehst, sind keine Wolken. Es ist das Gebirge."
„Das Gebirge mit den Höhlen?"
„Ja, von dem ich dir erzählte. Ich war als junge Frau einmal dort, und es hat mich sehr beeindruckt. Es werden Führungen durch einige erforschte Höhlen veranstaltet, aber ich weiß, daß es viel mehr unerforschte gibt, die noch nie ein Mensch betreten hat. Wer sollte sich auch dafür interessieren? Sie bringen keinen Nutzen."
Kervin druckste eine Weile herum, dann sagte er: „Wir haben eigentlich noch nicht darüber gesprochen, Kathleen, weil wir beide so Angst vor dem Stummhaus hatten. Darum war uns auch alles egal. Ich bin mit dir gegangen, weil du erfahrener bist als ich - und auch mehr herumgekommen. Aber kannst du mir sagen, was wir in den Höhlen sollen? Glaubst du, daß sie besser sind als das Stummhaus?"
Kathleen war stehengeblieben.
„Kervin, du kannst jederzeit umkehren. Ich werde dich nicht halten. Und später kannst du mir dann erzählen, ob das Stummhaus oder die Freiheit besser ist. Mir jedenfalls ist die Freiheit in der Wildnis lieber als das Gefängnis - oder gar der Tod."
„Verzeih, Kathleen, es war nur eine Frage. Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, für immer hier draußen leben zu müssen. Ohne die Rationen und ohne die Wohnung."
„Beides hättest du im Stummhaus wahrscheinlich auch nicht gehabt."
„Du meinst wirklich, daß sie uns vielleicht umgebracht hätten?"
„Es gibt Leute, die das behaupten. So, und nun geh weiter, wenn du mitkommen willst. Ich möchte vor dem Dunkelwerden die letzte Siedlung vor den Bergen erreichen."
Gehorsam trottete er hinter ihr her und versuchte Schritt zu halten. Die alte Frau hatte eine erstaunliche Ausdauer.
Sie war nicht nur klüger als er, sondern auch stärker. In jeder Hinsicht. Als die Sonne unterging, sahen sie die Siedlung vor sich liegen. Die Häuser standen zusammengeballt an einem Fluß, der aus den nahen Bergen kam. Solche einsamen Siedlungen gab es nur noch vereinzelt auf der
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