0702 - Das Stummhaus
lügen?"
„Es gibt genug Gründe. Gehen Sie weiter in den nächsten Raum und warten Sie, bis man Sie ruft."
Vester nickte dem Mann im weißen Kittel zu, erhielt aber keine entsprechende Gegenreaktion. Der nächste Raum war ebenfalls ein Wartezimmer, aber außer ihm befand sich niemand darin.
Eine halbe Stunde später kam jemand, um ihn zu holen.
Was nun folgte, war eine gründliche medizinische Untersuchung mit den modernsten Geräten und Instrumenten.
Sie dauerte mehr als drei Stunden und hätte selbst in einem der besten staatlichen Hospitäler nicht intensiver und genauer sein können.
Allmählich begann Vester sich zu fragen, warum mit den Alten solche Umstände gemacht wurden und wie die furchtbaren Gerüchte entstanden waren, in den Stummhäusern würde Euthanasie betrieben. Das konnte doch gar nicht stimmen, denn in seinem Wohnraum lebten genug Männer, die schon mehrere Jahre das Dasein von Gefangenen fristeten.
Auf der einen Seite war Vester beruhigt, denn nun bestand auch für ihn keine unmittelbare Lebensgefahr mehr. Auf der anderen Seite wurde das Problem immer akuter, wie er wieder herauskommen sollte.
Seine Verwandlung war so echt, daß selbst die Instrumente seine künstlich gealterten Zellen und Organe nicht registrierten.
Immerhin stellten sie einen für sein angebliches Alter ausgezeichneten Zustand fest. Vester merkte es, als er nach Beendigung der Untersuchung dem Chefarzt vorgeführt wurde, der den Bericht mit gerunzelter Stirn zur Seite legte und ihn forschend betrachtete.
„Wir haben keinen organischen Defekt an Ihnen feststellen können, Caughens. Sie sind 148 Jahre alt?"
„Das stimmt."
„Wirklich äußerst erstaunlich. Aber auch gut für Sie. Wir müssen dafür sorgen, daß es auch so bleibt. Zusammen mit Ihrer Tagesration erhalten Sie die entsprechenden Medikamente und Regenerierungspräparate. Nehmen Sie sie vorschriftsmäßig ein, dann wird Ihre Ration bald erhöht werden. Wir wollen, daß Sie eines Tages gesund sterben."
Nach diesem reichlich rätselhaften Ausspruch wurde Vester in das Wohngebäude zurückgeführt und sich selbst überlassen.
Im Wohnraum wurde er mit zwei oder drei neugierigen Blicken empfangen. Zum ersten Mal bemerkte er so etwas wie Interesse in den Augen der alten Männer.
„Nun, was haben sie gesagt?" fragte einer.
Vester setzte sich und berichtete.
Er schloß: „Welches Interesse haben sie daran, daß wir gesund sind - und daß wir gesund sterben? Wer stirbt schon, wenn er gesund ist?"
Einer der Alten grinste mit zahnlosem Mund vor sich hin.
„Jeder von uns hat irgend etwas, das für die Jungen noch wertvoll sein kann, und darauf sind sie geradezu versessen.
Kannst du dir nicht denken, was das ist?"
„Keine Ahnung. Was ist es denn?"
„Nun, zum Beispiel dein Herz, oder deine Leber, oder die Nieren und andere Organe. Transplantation! Es gibt zwar künstliche Organe, aber die echten sind begehrter. Weißt du nun, warum es die Stummhäuser gibt?"
Vester starrte ihn an, von neuem erschüttert und entsetzt.
„Du willst doch nicht behaupten, daß man uns umbringt und die Organe verkauft?"
„Aber nein, so schlimm ist es auch wieder nicht, alter Freund.
Niemand bringt uns um. Ich lebe schon seit zehn Jahren hier und warte. Eines Tages werde ich sterben, einfach so. Dann erst wird man mir die gesunden Organe entnehmen und zur Organbank schaffen. Was ist denn schon dabei? Das einzige, worauf ich verzichten muß, ist ein altertümliches Begräbnis. Das, was Von mir übrigbleibt, wird in den Reaktor der städtischen Energieversorgung gebracht. Das ist meine Gegenleistung für die vielen Jahre, in denen ich hier im Stummhaus verpflegt und betreut wurde. Und dir ergeht es genauso."
Vester nickte ihm wortlos zu und ging zu seinem Bett. Er hatte sich wieder angezogen und legte sich auf die Decken. Mit einem ungewissen Gefühl der Erleichterung starrte er gegen die Decke.
Er kannte nun das Geheimnis der Stummhäuser, und es war trotz allem schrecklich genug. Die Alten wurden wie Gefangene gehalten, sie sahen die Welt nicht mehr, sie hatten keine Verbindung zu anderen Menschen mehr - und sie warteten ergeben auf ihren Tod.
Auf ihren natürlichen Tod.
Trotzdem war das System unmenschlich und gegen alle Gesetze der Humanität. Jeder Mensch, besonders der alte, hatte ein Recht darauf, seinen Lebensabend zu genießen, dafür hatte er von Jugend an gearbeitet und gelebt.
Die Welt der Aphiliker war jedoch eine gefühllose Welt. Ihre Maßnahme war
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