0702 - Das Stummhaus
Zeit nicht abschätzen - leuchtete das grüne Licht seines Empfangstransmitters auf. Die anderen im Raum hatten ihre Rationen bereits erhalten - und verzehrt.
Er öffnete die kleine Tür. Er sah den Behälter mit der Ration und eine schriftliche Mitteilung. Darauf stand: „Medizinische Untersuchung nach dem nächsten Rationsempfang. Sie haben sich an der Eingangstür bereitzuhalten. Kleidung ist nicht mitzubringen."
Vester blieb im Bett liegen und dachte darüber nach.
Das Gerücht, daß die Alten sofort nach ihrer Einlieferung ins Stummhaus getötet würden, stimmte also nicht. Ein Ammenmärchen, nichts weiter. Aber warum dann überhaupt diese Einrichtung? Warum ließ man die Alten nicht in ihren Wohnungen sterben, wenn ihre Zeit gekommen war? Warum das Stummhaus?
Später kroch er aus dem Bett, wusch sich im gemeinsamen Baderaum und kehrte in sein Zimmer zurück. Er setzte sich an den Tisch. Nach einiger Zeit fragte er einen der Alten: „Ich bin neu und möchte etwas wissen. Willst du mir antworten?"
Der alte Mann, zahnlos und sicherlich schon 160 Jahre alt, nickte.
„Ich werde antworten, wenn ich es kann."
„Warum die ärztliche Untersuchung? Wurden Sie auch untersucht?"
Er nickte abermals.
„Wir werden in regelmäßigen Abständen untersucht. Man will, daß wir gesund sind."
„Ist das der einzige Grund?"
„Wir kennen keinen anderen."
Vester kehrte zum Bett zurück und setzte sich. Es hatte wenig Sinn, sich mit den Alten zu unterhalten. Sie lebten stumpf vor sich hin, empfingen und aßen ihre Rationen - und warteten.
Worauf warteten sie?
Ihr Leben hatte jeden Sinn verloren, denn wer einmal im Stummhaus war, verließ es nie mehr wieder.
Aber Vester hatte noch von keinem Gerücht gehört, das besagt hätte, aus einem Stummhaus wäre eine Leiche gebracht worden.
Wo also blieben die Alten, wenn der Tod sie erlöste?
Er deckte sich zu und versuchte zu schlafen. Da es still war und kaum jemand sprach, fiel ihm das nicht schwer.
Morgen würde er mehr wissen.
Vielleicht.
*
Drei Frauen und vier Männer warteten bereits an der Ausgangstür des Gebäudes, als Vester eintraf. Ein Wärter fuhr ihn an: „Das nächste Mal beeile dich gefälligst! Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen."
Er führte die acht Personen quer über den Hof zu einer anderen Tür, die sich erst nach einem komplizierten Manöver öffnete.
Dahinter lagen blitzsaubere Gänge mit einem Geruch nach Krankenhaus.
Wenn Vester nicht gewußt hätte, daß bisher alle Alten die medizinische Untersuchung überlebt hatten, wären ihm seltsame Gedanken gekommen. Aber dazu gab es keine Veranlassung mehr. Doch die Frage blieb: wozu das alles?
Sie gelangten in einen Warteraum mit Bänken. Der Wärter ließ sie allein und verschwand. Er schloß die Tür hinter sich ab. Aber da war noch eine zweite Tür, eine weiße, solide aussehende Tür, die sich wenige Augenblicke später öffnete.
„Hored Fagula", sagte eine hart dreinblickende Frau in weißem Kittel. „Kommen Sie!"
Einer der alten Männer erhob sich mühsam und ging in den anschließenden Raum. Dann schloß sich die Tür wieder.
Eine halbe Stunde verging, und Vester konnte sich ausrechnen, daß er den ganzen Tag hier sitzen würde, falls er zuletzt an die Reihe käme.
Nach anderthalb Stunden wurde eine der Frauen aufgerufen, und danach er. Etwas gebeugt schlurfte er an der Dame in Weiß vorbei und gelangte in eine Art Empfangsbüro. Hinter einem Tisch saß ein Arzt, wenigstens deutete der weiße Mantel darauf hin. Er sah ihm gleichgültig entgegen.
„Setzen Sie sich. Ich habe einige Fragen an Sie."
Vester wunderte sich ein wenig über den relativ höflichen Ton und setzte sich. Der Arzt las ein Formular durch, dann sah er auf.
„Sie wollten also fliehen, Kervin Caughens? Man hat Sie erwischt, damit ist alles beim alten. Kommen wir zur Sache. Sind Sie krank gewesen? Hatten Sie schwerwiegende Leiden?
Berichten Sie, es erleichtert uns unsere Aufgabe und Sie sind schneller fertig. Wurden Ihre Organe schon einmal ausgetauscht? Versuchen Sie, sich an alles zu erinnern."
Vester wußte zwar nicht, was die Fragen bedeuteten, aber er schüttelte den Kopf.
„Eigentlich war ich immer gesund, und einen Organtausch hatte ich niemals nötig. Ich fühle mich auch heute noch gesund."
„Na schön, das hört sich gut an. Also keine Krankheiten?"
„Keine, an die ich mich erinnere."
„Gut, die Untersuchung wird zeigen, ob Sie die Wahrheit sprechen."
„Warum sollte ich
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