0702 - Das Stummhaus
Gebirge die Richtung zeigen, aber ein Gipfel sah wie der andere aus. Aber selbst wenn er das Tal und das Plateau fand, war noch längst nicht alles in Ordnung. Was würde Kathleen zu der ganzen Geschichte sagen? Würde sie ihm glauben? Und würde sie sehr zornig werden, wenn er ohne das Gewehr kam?
So etwas wie Protest stieg in ihm auf, wenn er an Kathleen dachte. Sie hätte ja selbst nach Terence gehen können, wenn sie unbedingt ein Gewehr haben wollte. So aber hatte sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihn in größte Gefahr gebracht. Daß ein Wunder geschehen würde, konnte auch sie vorher nicht gewußt haben.
Am Himmel waren nur wenige Sterne zu sehen, und obwohl es vor hundertzwanzig Jahren noch völlig fremde Konstellationen gewesen waren, kannte sie heute jedes Kind. Kervin entsann sich noch jener Sternbilder, die er in der Schule gelernt hatte. Da gab es den Großen Wagen und den Polarstern, der einem die Richtung zeigte. Er wurde heute durch einen blauen Doppelstern ersetzt, der dicht über dem nördlichen Horizont stand.
Er aber mußte nach Osten gehen, ließ den blauen Doppelstern also links liegen und wanderte weiter durch die Nacht. Weit vor ihm lag ein dunkler Streifen unter dem allmählich heller werdenden Himmel. Das mußte bereits das Gebirge sein.
Später blendete ihn die Sonne, aber er glaubte, seine Umgebung wiederzuerkennen. Einige Hügelformationen fielen ihm auf. Die hatte er schon mal gesehen. Dann erreichte er das Tal mit dem Bach, und schließlich das kleine Plateau mit der Höhle.
Kathleen könnte er nirgends entdecken, und zu seiner Verwunderung verspürte er deswegen Erleichterung. Vielleicht war sie unterwegs und sammelte Holz, oder sie versuchte, ein wildes Kaninchen einzufangen.
Vor der Terrasse setzte er sich auf einen Stein. Der lange Weg hatte ihn müde gemacht. Es war kurz nach Mittag und warm.
Sein geheimnisvoller Doppelgänger würde jetzt schon in Melbourne im Stummhaus sein, wenn niemand den Tausch bemerkt hatte.
Wirklich, der Mann mußte den Verstand verloren haben.
Vester hörte hinter sich ein Geräusch. Es war Kathleen. Sie kam aus dem Wald und trug ein totes Kaninchen. Sie mußte es mit einem Stock erschlagen haben, denn der Kopf war zertrümmert.
Sie warf die Beute auf den Boden und sagte: „Da bist du ja wieder. Und wo hast du das Gewehr?"
Kervin zuckte die Schultern und berichtete, was sich zugetragen hatte. Er sah ihrem Gesicht an, daß sie ihm kein Wort glaubte, und er konnte es ihr nicht einmal übelnehmen, wenn er sich auch darüber ärgerte.
„Es ist alles wahr, was ich erzähle", versicherte er, als sie schwieg und ihn wütend ansah. „Ohne den Fremden wäre ich jetzt schon in Melbourne. Ich begreife es selbst nicht, Kathleen."
„Und mit keiner Bemerkung hast du unser Versteck verraten?
Sag es mir lieber jetzt, damit wir verschwinden können, ehe sie uns holen kommen."
„Es kommt niemand. Kathleen, so glaube mir doch. Wie hätte ich dich verraten können?"
„Vielleicht haben sie dir dafür die Freiheit versprochen."
Nun wurde er zornig.
„Du solltest mich besser kennen! Glaubst du, dann wäre ich hierher zurückgekommen? Wir sind hier in Sicherheit." Er deutete auf das tote Kaninchen. „Wie ich sehe, geht es auch ohne Gewehr."
Sie ließ sich ablenken.
„War eine ziemliche Arbeit, es zu erwischen. Aber es gibt eine ganze Menge von ihnen im Wald. Ich glaube nicht, daß wir verhungern werden."
Damit war das Gewehr vergessen.
Kervin zog sich in seine Höhle zurück, um ein paar Stunden zu schlafen.
*
Zwei Tage nach diesen Vorkommnissen blieb Kervin auf dem Plateau, während sich Kathleen auf den Weg in die verwilderten Gärten einer längst verlassenen Siedlung machte, um Früchte zu holen. Vielleicht, so hoffte sie, konnte sie auch noch Jungpflanzen mitbringen, die am Waldrand in der guten Erde bestens gedeihen würden.
Kervin machte es sich gemütlich und genoß den freien Tag.
Heute wurde er nicht herumkommandiert und brauchte keine Befehle entgegenzunehmen. Er saß in der Sonne und döste vor sich hin.
Erst als Kathleen abends nicht zurückkam, begann er sich Sorgen zu machen. Auf einmal spürte er die Einsamkeit der Wildnis und kam sich richtig verlassen vor. Erst jetzt begann er zu ahnen, daß er es ohne Kathleen hier nicht aushalten würde, ohne den Verstand zu verlieren.
Ernsthafte Sorgen machte er sich jedoch noch nicht. Es konnte ja sein, daß Kathleen mit der Arbeit nicht fertig geworden war und in einem der
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