0709 - Märchenfluch
alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Pelham.
»Ja, ja, mir geht's gut. Bin nur etwas müde vom langen Herumstehen.«
Das stimmte nicht ganz. Tatsächlich war ihm heute einfach nicht danach, sich unter das Vordach von Lizzie Ippestons Gemischtwarenladen zu setzen und »die Stellung zu halten«, wie sie ihre tagtäglichen Palaver über Gott und die Welt nannten.
Heute zog es Stagg nach Hause, mit geradezu unheimlicher Macht. Es drängte ihn, den alten Brief wieder einmal hervorzukramen. Jenen Brief, mit dem, so konnte man wohl sagen, alles angefangen hatte…
Aber davon erzählte er Dancey und Pelham nichts. Er hatte über sieben Jahrzehnte lang geschwiegen, und dieses Schweigen würde er jetzt, nach all der mitunter schweren Zeit, nicht brechen.
Dancey und Pelham strebten über die Brücke dem Städtchen zu, Stagg ging zur alten Papiermühle, die sein Zuhause war. In den Fünfzigern hatte er sie gekauft, nachdem er es zuvor als Schriftsteller zu einigem Wohlstand gebracht hatte und zu einer modernen Wohnstatt umbauen lassen.
Seinerzeit jedenfalls war sein Heim auf dem neuesten Stand der Zeit gewesen. Heute freilich war das Interieur der Hamner's Mill, die nach wie vor nur nach ihrem Vorbesitzer benannt wurde, hoffnungslos überaltert, oder herrlich nostalgisch, wie die Sommerfrischler sagten, die es ab und zu nach Fly Creek verschlug.
Stagg betrat die Mühle, deren altes Gebälk zu jeder Tages- und Nachtzeit ächzte und stöhnte, wenn sich auch das Mühlrad draußen längst nicht mehr drehte. Dem Oberlauf des Fly Creeks war in den Jahren zu viel Wasser abgegraben worden, sein Pegel deshalb so weit gesunken, dass das Rad, wenn nicht gerade Hochwasser herrschte wie vor ein paar Tagen, die Oberfläche nicht einmal mehr touchierte.
Stagg ging die Holztreppe zum Hauptraum hinauf. Es gab hier keine Zimmer im eigentlichen Sinne, sondern ineinander verschachtelte offene Bereiche und Galerien.
Die alte Truhe stand auf der obersten Galerie, die nur über eine Leiter zu erreichen war, und dort in der hintersten Ecke. Staub wölkte auf, als Stagg den Deckel aufzog.
Es musste Jahre her sein, seit die Truhe zum letzten Mal geöffnet worden war. Und noch länger lag es zurück, dass er den Brief zum letzten Mal hervorgeholt hatte.
Er zog das zweimal gefaltete Blatt Papier aus dem vergilbten Umschlag. Vorsichtig faltete er das Schreiben auseinander. Die Falze waren längst dünn und brüchig geworden.
Der Brief war auf einer Schreibmaschine getippt und mit Tinte unterzeichnet worden.
Stagg kannte den Inhalt auswendig. Trotzdem las er ihn auch jetzt wieder. Und damit setzte sich der Zug der Erinnerung in Bewegung und fuhr zurück in der Zeit, bis Endstation war an jenem Tag, von dem an die Dinge ihren höchst befremdlichen und zutiefst beunruhigenden Lauf genommen hatten…
Chicago, 18. April 1926
Werter Mr. Stagg,
zunächst möchte ich Ihnen Dank sagen für die Einsendung Ihrer Kurzgeschichten, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Leider jedoch muss ich Ihnen die Mitteilung machen, dass ich augenblicklich keine Möglichkeit sehe, Ihre Werke in unserer Zeitschrift zu publizieren.
Dieser Bescheid, darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen, sagt weder etwas über die Qualität Ihrer Geschichten noch Ihr Geschick als Autor aus, lieber Mr. Stagg. Ich bin lediglich der Ansicht, dass die Thematik sich nicht recht in den Rahmen unseres Journals fügt.
Für Ihren weiteren Werdegang wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute, und ich erlaube mir abschließend, Sie durchaus zu ermuntern, nicht nachzulassen in Ihrem Bestreben, schriftstellerische Arbeiten zu veröffentlichen. Es grüßt Sie ganz herzlich
Farnsworth Wright Redaktion »Weird Tales - The Unique Magazine«
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Ein gerichtsmedizinisches Institut gab es in der 5000-Seelen-Stadt Rumford natürlich nicht. Aber auch der Begriff »Leichenschauhaus« war reichlich geschmeichelt für die entsprechende Einrichtung vor Ort. Menschen, die in oder um Rumford einem Unfall oder Verbrechen zum Opfer fielen, wurden in einem Nebenraum des örtlichen Bestattungsunternehmens von einem der ansässigen Ärzte obduziert.
Brogan's Funeral Home lag auf einer kleinen Anhöhe, den Abhang dahinter nahm praktischerweise der örtliche Friedhof ein. Der Parkplatz vor dem Gebäude war größtenteils belegt, weil drinnen eine Trauerfeier stattfand. Zamorra folgte dem Wagen des Sheriffs zu einem Seiteneingang. Als sie aus ihren Fahrzeugen stiegen, zogen zwei Mitarbeiter des
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