0709 - Märchenfluch
waren.
Darüber hinaus hatte sie auf gewissenhafte Eintragungen ins Gästebuch gepocht und dadurch herausgefunden, dass ihre beiden Gäste Professor und Sekretärin waren und »der Herr Professor«, wie sie Zamorra fortan nur noch nannte, in Parapsychologie promoviert hatte. Das hatte Miss Lucinda zu dem Schluss gebracht, dass »der Herr Professor« wohl der beiden »furchtbaren Todesfälle« wegen nach Fly Creek gekommen sein müsse.
Zamorra lag also vermutlich nicht ganz falsch, wenn er von Miss Lucinda, die nach dem Tod ihres vierten Gatten wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte, ein so interessantes wie unter Umständen ergiebiges Tischgespräch erhoffte.
»Oh, liebend gern, Herr Professor!«, nahm Miss Lucinda die Einladung denn auch freudestrahlend an und setzte sich.
Zamorras Versuch, erst einmal harmlose Konversation zu machen, erstickte sie noch im Keim, indem sie gleich loslegte. »Ein Parapsychologe sind Sie also, Herr Professor. Das muss ein aufregender Beruf sein. Da führen Sie sicher Exorzismen durch und vertreiben Poltergeister aus Spukhäusern, nicht wahr?«
Zamorra lächelte charmant. »Exorzismen nur dienstags nach Voranmeldung, Poltergeister donnerstags und freitags und grundsätzlich nur bei Vollmond.«
»Ach, Herr Professor, Sie nehmen mich auf den Arm!«, erwiderte sie und schlug mädchenhaft verschämt die Augen nieder.
»Das würde ich gerne«, schmeichelte Zamorra ungeniert, »aber ich fürchte, Miss Duval würde mir dann die Leviten lesen.«
»Sind Sie denn auch im Feld des Herrn Professors bewandert, Miss Duval?«, wandte sich die Dame des Hauses an Nicole.
»Ein wenig. Aber der Herr Professor ist und bleibt natürlich unerreicht.«
»Ich verstehe - ein wahrer Meister des Übersinnlichen, wie?« Sie lachte glockenhell auf.
Zamorra und Nicole tauschten einen amüsierten Blick. Dann steuerte Zamorra das Gespräch in die beabsichtigte Richtung.
»Miss Duval sagte mir, Sie hätten vermutet, dass wir wegen dieser beiden Todesfälle hier seien.«
»Den armen Lester Billings nicht zu vergessen!«, warf sie mit erhobenem Finger ein.
Zamorra stutzte. Der Name sagte ihm nichts. Er rief sich die Zeitungsberichte in Erinnerung, dann fragte er: »Lester Billings? War das der Mann, der Freitagnacht spurlos verschwand? Hat man ihn denn gefunden?«
»Mitnichten. Man hat ja noch nicht einmal nach ihm gesucht. Der Polizeiapparat ist in dieser Hinsicht schrecklich träge. Eine Vermisstenanzeige wird erst vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden einer Person aufgenommen, vorher rührt da niemand auch nur den kleinen Finger.«
»Wenn er nicht gefunden wurde, wie kommen Sie dann darauf, dass auch Mr. Billings diesem Wolf zum Opfer gefallen ist?«, wollte Nicole wissen.
»Das behaupte ich ja nicht«, korrigierte Miss Lucinda. »Aber es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn er irgendwo da drüben im Wald aufgeknüpft an einem Baum hinge.«
»Wie bitte?« Nicole tat nicht nur bestürzt.
Miss Lucinda seufzte schwer und voll Bedauern.
»Es gab schon Nächte, da sich in diesem Wald fünf, sechs Leute praktisch gleichzeitig erhängten«, erklärte sie mit gesenkter Stimme, »einfach so!«
Sie wandte den Blick über die Schulter der Fotogalerie ihrer verstorbenen Gatten zu. »Auch George, mein zweiter Mann, Gott hab ihn selig, hat seinem Leben ein so furchtbares Ende gesetzt.« Sie bekreuzigte sich.
»Miss Lucinda«, begann Zamorra, »ich verstehe nicht ganz. Was hat es denn mit diesem Wald…«
Sie ließ ihn nicht ausreden und sah ihn mit einem Erstaunen an, das beinahe schon an Fassungslosigkeit grenzte.
»Aber, Herr Professor, Sie müssen das doch wissen - dieser Wald ist verflucht, seit Urzeiten schon!«
***
Vergangenheit
30. April 1926
Noch bevor Amory Stagg seine Lust am Schreiben entdeckt hatte, war schon seine Liebe fürs Zeichnen geweckt. Aber auch diese Leidenschaft war nicht zum Wohlgefallen seines Vaters, des gestrengen Reverends. Für seine Zeichnungen hatte Amory tagelang in der Kirche knien und beten müssen, bis ihm der Mund fast fransig geworden war!
Die Strafe hatte er freilich nicht dafür erhalten, dass er mit Talent gesegnet war, sondern für die Auswahl seiner Motive - barbusige Mädchen, wie Amory sie in freier Wildbahn noch nicht gesehen hatte, und dämonische Ungeheuer, wie sie nur eines Menschen Fantasie, nicht aber die Natur erschaffen konnte.
Das »unreine Gedankengut« hatten ihm alles Beten und auch die Prügel durch die väterliche Hand nicht
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