0709 - Märchenfluch
zu sein, hm?«
Nicole zuckte die Achseln. »Manchmal hilft eben nichts anderes als eine Prise schwarzer Humor.«
Zamorra tippte mit dem Finger auf die Tischplatte, wo ihre ›Fundstücke‹ lagen. »In dieser Angelegenheit bringt er uns allerdings nicht weiter.«
Da sie die einzigen Gäste der Pension waren und Miss Lucinda Snodgrass in der Küche hantierte, versuchte Zamorra sein Glück noch einmal mit dem Amulett. Aber abgesehen davon, dass die Silberscheibe bei Kontakt mit den inzwischen hart gewordenen Substanzproben wärmer wurde, geschah nichts, das ihnen Fingerzeig zu des Rätsels Lösung gewesen wäre.
»Ein totes Mädchen«, überlegte Nicole, »das offenbar niemand kennt und das deshalb auch nicht vermisst wird, transformiert infolge der Berührung durch Merlins Stern in eine pappmacheartige Masse. Was sagt uns das?«
»Dass sie möglicherweise gar kein Mensch war«, schlussfolgerte Zamorra.
»Oder dass sie kein Mensch mehr war.«
»Du meinst, der Wolf - oder womit wir es auch zu tun haben - könnte sie mit einer Art Keim infiziert haben, der sozusagen den Grundstein für diese Zersetzung legte?«
»Durchaus möglich, oder? Immerhin habe ich Spuren der gleichen Masse an der Stelle im Stall gefunden, wo der Wolf wahrscheinlich angeschossen wurde. Also gibt es auf jeden Fall eine Verbindung zwischen ihm und ›Rotkäppchen‹.«
»Zweifellos«, pflichtete Zamorra bei. »Aber mir will die Tatsache nicht aus dem Kopf, dass sowohl das erste Opfer als auch dieses ›Tier‹ scheinbar wie aus dem Nichts aufgetaucht sind. Ich habe das Gefühl, dass wir da ansetzen müssen.«
»Das ›erste Opfer‹ - das könnte ein weiterer Anhaltspunkt sein«, überlegte Nicole. »Offenbar sind weder aus der näheren noch weiteren Umgebung ähnliche Vorfälle bekannt. Davon hätten wir ja wohl erfahren, nicht? Ergo ist der ›böse Wolf‹ tatsächlich hier, in Fly Creek erstmalig in Erscheinung getreten. Die ganze Sache könnte also ursächlich mit diesem Ort zu tun haben.«
Zamorra machte ein zustimmendes Geräusch.
Nur half ihnen momentan auch dieser Gedankenansatz nicht viel weiter. Sie hielten nur ein paar Teile eines Puzzles in den Händen, nicht genug, um das Gesamtbild auch nur ansatzweise erfassen zu können. Sie waren möglicherweise auf der richtigen Spur, dachten in die richtige Richtung, aber alle Grübelei schien, vorerst wenigstens, nicht zu fruchten.
Deshalb waren sie keineswegs unglücklich darüber, dass Miss Lucinda in diesem Augenblick mit dem Abendessen kam. Zamorra hakte das Amulett an der Kette fest und ließ es unauffällig unter dem Hemd verschwinden.
»Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Professor?«, sagte die Hausherrin, trotz ihrer zierlichen Gestalt einen schweren Topf ohne sichtliche Mühe vor sich hertragend.
»Aber überhaupt nicht, ganz im Gegenteil!«, versicherte Zamorra und wollte ihr behilflich sein.
»Lassen Sie nur«, wehrte sie ab. »Glauben Sie etwa, ich wäre über achtzig geworden, wenn ich mir im Leben jeden Handgriff hätte abnehmen lassen?«
Ihr stattliches Alter sah man der weißhaarigen Frau nicht an. Auf Zamorra und Nicole wirkte sie wie eine rüstige Endsechzigerin.
»Greifen Sie tüchtig zu«, ermunterte sie ihre beiden Gäste, und lecker wie das Stew roch, ließen sie sich das nicht zweimal sagen. Miss Lucinda holte derweil noch einen Korb mit geschnittenem Weißbrot aus der Küche und stellte ihn auf den Tisch.
Als sie sich umwenden und gehen wollte, hielt Zamorra sie auf. »Es wäre uns eine Ehre, wenn Sie uns Gesellschaft leisten würden, Miss Lucinda.« Einladend wies er auf einen der freien Stühle am Tisch.
Nicole warf ihm einen kurzen Blick zu, der verriet, dass sie ihn durchschaute.
Höflichkeit war gewiss nicht der ausschlaggebende Beweggrund.
Jahrelange Erfahrung hatte sie beide gelehrt, dass es in Dörfern wie Fly Creek, wo es unter Umständen nicht ganz mit rechten Dingen zuging oder deren Vergangenheit Geheimnisse bergen mochte, in aller Regel zwei Menschenschläge gab: Die einen waren jedem Fremden gegenüber misstrauisch und schwiegen beharrlich, die anderen waren von der redseligen Art, die keine Gelegenheit ausließen, um die alten Geschichten zum Besten zu geben.
Lucinda Snodgrass mochte durchaus zu letzterer Sorte gehören. Wissbegier und Redseligkeit hatte die vierfache Witwe bewiesen, als Nicole am Nachmittag nach einem Zimmer fragte. Miss Lucinda hatte darauf bestanden, deren zwei zu vermieten, da »die Herrschaften« nicht verheiratet
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