0709 - Märchenfluch
dieser Treppen kam das Licht.
Dahinter konnte es nicht ins Freie gehen. Dazu war der Schein zu schwach. Dennoch war dieser Schimmer alles, was sich ihr als Ziel bot.
Sie watete auf die Treppe zu und stieg die steinernen Stufen empor. Hinter einem Türbogen lag ein kleiner Raum mit einem einzelnen Fenster und wenigem, ausnahmslos zerbrochenem Mobiliar.
Staub hatte sich gut fingerdick auf allem abgesetzt.
Eine zweite Tür führte aus dem Raum an einen Ort, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Auch hier war alles von einer dichten Staubschicht bedeckt. Spinnweben hatten Vorhänge gebildet, die von der hohen Decke bis zum Boden reichten.
Der Raum war groß und offensichtlich für Versammlungen vieler Menschen geschaffen. Schlichte Sitzbänke standen in zwei Reihen hintereinander, dazwischen blieb ein Gang frei, der zu einer doppelflügeligen Tür führte. Hohe Fenster ließen, obwohl sie dreckverkrustet und fast blind waren, schmutzig wirkendes Licht herein.
Fast andächtig langsam ging sie den Gang hinunter, und dabei war ihr, als wären die Bänke links und rechts dicht besetzt, und jeder Einzelne schien sie anzusehen.
Beinahe glaubte sie, diese Unsichtbaren miteinander tuscheln zu hören.
Ein unheimliches, wenn auch nicht wirklich beängstigendes Gefühl.
Sie erreichte die Doppeltür, schob einen der schwergängigen Flügel auf und trat hinaus.
Auch den Ort, der nun im letzten Licht eines Tages vor ihr lag, hatte sie ihr Lebtag noch nicht gesehen.
Ringsum standen einige Häuser, doch alle schienen sie verlassen und tot. Nirgends rührte sich etwas. Nur ein leises Rauschen und Plätschern war zu vernehmen. Dann fand ihr Blick den Bach, der etwas entfernt vorüberfloss. Ein Stück jenseits seines anderen Ufers lagen weitere Häuser, die weit weniger vernachlässigt aussahen.
Vielleicht sollte sie sich dorthin wenden, einfach an eine der Türen klopfen, nur um in Erfahrung zu bringen, wo sie denn eigentlich war.
Sie hielt Ausschau nach einer Brücke, die über den Bach führte, und dabei wurde sie auf das große Haus direkt am Ufer des Flüsschens aufmerksam.
Und auf das Licht hinter den kleinen Fenstern. Wenigstens dort also wohnte am diesseitigen Ufer jemand.
Da wollte sie anklopfen, und so ging sie in die entsprechende Richtung.
Die Stimmen, die weit hinter ihr in den dunklen Gewölben laut wurden, hörte sie nicht mehr.
»Wo bissst du?« rief dort jemand, und ein anderer: »Bist du hier? Schneewittchen…!«
***
Die Wolfsfänge schlugen Professor Zamorra ins Gesicht!
So also sollte sein Ende aussehen! Nach all den Abenteuern und Gefahren, die der Meister des Übersinnlichen bestanden hatte, würde ihm ein Wolf zum Verhängnis werden.
Doch selbst in diesem letzten Augenblick zog er noch eine Lehre aus dem Geschehen, nämlich, dass einen selbst der kleinste Stein zum Stolpern bringen konnte. Mochte Zamorra auch schon ganze Welten vor dem Untergang bewahrt und gegen die Mächtigsten der höllischen Heerscharen gekämpft haben, so waren ihre niederen Vertreter doch nicht minder gefährlich…
Kalt waren die Zähne des Wolfes, sein Maul widerlich feucht. Aber, seltsam, es tat nicht einmal weh. Es war nur ein ekelhaftes Gefühl. Und es hörte nicht auf.
Zamorra hatte die Lider zugekniffen. Nicht etwa, weil er dem Tqd nicht ins Auge sehen konnte, sondern im Reflex, als das weit aufgerissene Maul auf ihn zugerast war.
Jetzt öffnete er die Augen und sah über sich nach wie vor den Schädel des Wolfs, der allerdings wie ein Wachsmodell zerlief und sich dabei in eine breiige Masse verwandelte. Der Geruch nach Zimt und Sandelholz war von beinah betäubender Stärke.
Die Verwandlung beschränkte sich aber nicht auf den Kopf der Bestie. In einer eher unbewussten Abwehrbewegung hatte Zamorra seine Hände ins Fell des Tieres gewühlt, dicht über dessen Schultern. Und auch dort schmolzen das borstige Wolfshaar und der Körper darunter zu etwas Schleimigem, das Zamorra zwischen den zupackenden Fingern hindurchquoll.
»Herr Professor, sind Sie wohlauf?«
Über ihm erschien das bestürzte und besorgte Gesicht von Miss Lucinda.
Er richtete sich auf die Ellbogen hoch. Dabei geriet die klebrige Masse, zu der das Ungeheuer geworden war, in träge Bewegung und floss zäh von Zamorras Körper.
»Pfui Deibel«, knirschte er angewidert. »Die Klamotten kann ich wohl wegwerfen…«
»Kleidung kann man neu kaufen«, erklärte Nicole Duval. Sie, seit eh und je von der Haute Couture besessen, sprach da ganz aus
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