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0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Stahl
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sicher, ob wir in diesem Fall tatsächlich von einer ›Welt‹ sprechen können. Es scheint, als hätte Billings selbst seine Umgebung maßgeblich beeinflusst und gestaltet. Wenn auch meistenteils unbewusst.«
    »Du meinst also, wir würden möglicherweise etwas ganz anderes sehen, wenn es uns dorthin verschlüge?«
    »Davon gehe ich aus.« Zamorra nickte. »Dort - wo und was dieses Dort auch sein mag - wurden Billings' ganz eigene Phantasien Realität. Jeder Mensch schafft sich in Gedanken eine ganz persönliche Kulisse für jede Geschichte, die er hört oder liest. Wenn hundert Leute ein und dieselbe Erzählung lesen, dann hat jeder dieser Hundert sein ureigenes, einzigartiges Gesamtbild vor Augen. Im Wesentlichen mögen sie zwar deckungsgleich sein, aber sie unterscheiden sich zwangsläufig im Detail.«
    »Stellt sich immer noch die Frage, wie Billings dorthin gelangte und wie er zurückkam.«
    »Offenbar kommt es zu einer Art zeitweiser Überlappung zwischen dieser Scheinwelt und unserer Realität. Ich vermute, dass es Billings eher zufällig erwischt hat. Weil er am richtigen Fleck stand - oder besser gesagt am verkehrten.«
    »Aber was löst diese Überlappungen aus?«
    »Und besteht die Gefahr, dass es nicht bei diesen vorübergehenden Überschneidungen bleibt?«, setzte Zamorra eine weitere Frage hinzu.
    »Du fürchtest, diese andere Ebene könnte unsere vereinnahmen?«
    »Wir können es jedenfalls nicht ausschließen.« Zamorra seufzte. »Uns fehlt immer noch ein ganz entscheidendes Puzzleteil.«
    Unruhig ging er im Zimmer auf und ab. Verfolgte Gedanken. Verwarf sie, wenn sie nirgendwohin führten. Wenigstens, dachte er, haben wir es nicht schon wieder mit der Spiegelwelt zu tun.
    Aber er wusste nicht, ob er darüber erleichtert sein sollte.
    »Dieses fehlende Teil muss sich hier irgendwo befinden«, gab sich Nicole überzeugt, »in Fly Creek.«
    Zamorra blieb stehen, so abrupt, dass Nicole ihn verwundert ansah.
    »Was ist?«
    »Du hast Recht«, erwiderte er. »Es ist hier, direkt vor unserer Nase!«
    Er schien die Wand anzustarren, aber als Nicole seiner Blickrichtung folgte, sah sie, dass er eine gerahmte Zeichnung betrachtete, die dort hing. Dem vergilbten Papier nach musste sie schon ein paar Jahrzehnte alt sein.
    Sie wollte näher heran, um die Zeichnung, die von etwa doppelter Postkartengröße war, genauer in Augenschein zu nehmen. Doch da hatte Zamorra das Bild bereits vom Haken genommen. Er studierte es regelrecht.
    Es war das mit Tusche gefertigte Portrait eines Mädchens. Es mochte 15 sein, vielleicht etwas jünger. Obgleich das Bild nur schwarzweiß war, wirkte es plastisch, fast lebensecht. Der Künstler hatte geschickt mit Schatten und hauchfeinen Linien gearbeitet.
    »Das ist doch Miss Lucinda, oder?«, wunderte sich Nicole.
    Zamorra nickte. »Zum einen.«
    »Und zum anderen?«
    »Rotkäppchen.«
    ***
    Die Geister, die ich rief, ich wird sie nicht mehr los…
    Diese Worte eines sehr viel berühmteren Kollegen spukten Amory durch den Kopf.
    Aber der deutsche Dichterfürst hatte gewiss sehr viel weniger Grund zu dieser Klage gehabt!
    Er, Stagg, wurde nämlich tatsächlich mit jenen Geistern konfrontiert, die er einst geschaffen hatte, ohne es zu wissen. Verstehen konnte er es heute noch nicht. Nur Zweifel hatte er nicht mehr. Wenn es noch einen letzten Rest davon gegeben hatte in irgendeinem Winkel seines Denkens, dann hatte ihn seine Besucherin ausgeräumt. Mit nichts anderem als ihrer bloßen Gegenwart.
    Sie war es. Genauso wie er sie gezeichnet hatte in einer jener unseligen Frühjahrsnächte des Jahres 1926. Genauso wie alle Welt sie sich vorstellte.
    Haut so weiß wie Schnee, Lippen rot wie Blut und Haar so schwarz wie Ebenholz…
    ...Schneewittchen.
    Tropfnass war sie gewesen, als sie vor Staggs Tür gestanden hatte. Jetzt saß sie auf seiner Couch. Er hatte ihr ein Handtuch gegeben, mit dem sie sich Gesicht und Haar trocken rieb. Das tat sie mit solch natürlicher Anmut, wie sie wohl nur Prinzessinnen zu Eigen war - in Märchen jedenfalls…
    Stagg musste an sich halten, um nicht einfach loszuschreien. Oder zu lachen. Oder zu weinen. Zumute war ihm nach all dem gleichzeitig.
    »Das duftet herrlich«, sagte Schneewittchen, das Gesicht in das Handtuch vergraben. »Und es ist so weich. So etwas Wundervolles habe ich noch nie gesehen.«
    Natürlich nicht, dachte Stagg, ich hob dir damals ja auch kein Handtuch gezeichnet…!
    Jetzt konnte er nicht verhindern, dass ihm ein komischer kleiner

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