071 - Gefangen in den Bleikammern
Angela, die verschwunden war. Mein Vater tauschte mit meinem Bruder immer wieder Blicke aus.
„Ich bin nicht verrückt!" schrie ich abschließend.
Mein Vater blickte mich bedauernd an. Ich war sicher, daß er mich für wahnsinnig hielt. Meine Erzählung mußte danach geklungen haben.
„Ich will von dieser Insel fort!" kreischte ich. „Ich halte es hier nicht mehr aus!"
„Beruhige dich, Michele!" sagte Vater. „Ich nehme dich nach Venedig mit."
Ich atmete erleichtert auf. Das war alles, was ich hatte erreichen wollen.
Auf der Fahrt nach Venedig bestürmte ich meinen Vater mit Fragen nach Selva, doch er gab mir nur ausweichende Antworten. Bloß erfuhr ich: Sie war noch nicht der peinlichen Befragung unterworfen worden.
Ich bat meinen Vater, Selva sehen zu dürfen. Er lehnte ab. Mittels seiner Beziehung wäre es für ihn leicht gewesen, eine Sprecherlaubnis für mich zu erwirken. Ich bestürmte meinen Vater immer wieder, flehte ihn an, ja, ich ging sogar so weit, daß ich zu weinen begann. Endlich rang ich ihm die Zusicherung ab, daß er eine Besuchserlaubnis für mich beantragen würde.
Mein Vater verbot mir, den Palazzo zu verlassen. Ich war ein Gefangener im eigenen Haus. Meine Vermutung, daß er mich für verrückt hielt, bestätigte sich.
Zwei Ärzte kamen zu mir, die mich gründlich untersuchten und mir unzählige Fragen stellten. Sie sprachen danach mit meinem Vater ziemlich lange. Ich konnte nur hoffen, daß sie meinen Zustand nicht als zu ernst beurteilten, denn die Vorstellung, nach San Clemente gebracht zu werden, behagte mir überhaupt nicht. Auf San Clemente lebten die Geistesgestörten Venedigs. Die Zustände dort waren einfach unbeschreiblich. Aber wenn mich auch die Ärzte als verrückt eingestuft hatten, so war ich sicher, daß mein Vater niemals mit meiner Überstellung nach San Clemente einverstanden gewesen wäre. Es gab unter den reichen Bürgern der Stadt einige Verrückte, die in den Palästen gefangengehalten wurden. Die Vorstellung, niemals wieder den Palazzo verlassen zu dürfen, war allerdings auch nicht angenehm.
„Dein Zustand ist ernst", sagte mein Vater, als er mein Zimmer betrat. „Die Ärzte führen das auf Selvas Einfluß zurück. Sie sind sicher, daß du bald gesund sein wirst."
Ich nickte. Das waren zwar gute Neuigkeiten, obzwar ich gewußte hatte, daß ich nicht verrückt war. Aber vielleicht glaubte jeder Verrückte, daß er völlig normal war.
„Du stehst noch immer im Bann der verfluchten Hexe", sprach mein Vater weiter.
„Wahrscheinlich haben die Ärzte gesagt, daß es schädlich für mich sei, wenn ich Selva sehen würde?"
Vater schüttelte den Kopf und lächelte schwach.
„Nein", sagte er. „Sie sagten gerade das Gegenteil. Du mußt dich von ihr lösen. Und ein Schock kann helfen."
„Was meinst du damit?" fragte ich interessiert.
„Das wirst du morgen sehen", wich er meiner Frage aus.
Ich blieb allein in meinem Zimmer und versuchte mir über meine Gefühle zu Selva klarzuwerden, doch es gelang mir nicht. Ich kam mir wie ein innerlich Zerrissener vor. Einerseits liebte ich sie noch immer, andererseits stieß sie mich ab.
Mein Vater hielt sein Versprechen. Kurz vor Anbruch des Tages wurde ich geweckt. Wenige Minuten später waren wir mit einer Gondel unterwegs. Wir fuhren nicht den Canal Grande entlang, sondern wählten eine kürzere Route. Der Gondoliere bog in einen der unzähligen Nebenkanäle ein. Nur wenige Gondeln kamen uns entgegen.
Mein Vater wirkte geistesabwesend, und ich hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Bei San Moise verließen wir die Gondel und gingen zu Fuß weiter. Nach wenigen Minuten betraten wir den Markusplatz. Mein Vater schritt auf das Tor zu, das zu den unterirdischen Gefängnissen führte. Zwei Soldaten bewachten das Tor, die uns, ohne Fragen zu stellen, passieren ließen.
Ein Gitter versperrte uns den Weg. Eine Flucht aus den Verliesen war noch keinem Menschen gelungen. Wer hier gefangengehalten wurde, sah in den seltensten Fällen noch einmal das Tageslicht. Aus einer Pforte trat ein Soldat. Mein Vater holte ein Schriftstück hervor, und der Soldat las es zweimal durch. Dann gab er meinem Vater das Schreiben zurück, trat ans Gitter und rief dem dahinterstehenden Pfosten etwas zu.
Sekunden später wurde das Tor geöffnet, und wir durften eintreten. Noch zweimal versperrten uns Gitter den Weg, danach wurden wir von einem Gefängniswärter begleitet. Er führte uns zu einer breiten Treppe, die steil in die Tiefe
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