0712 - Satan von Kaschmir
Gewässer selbst schaukelten die liebevoll eingerichteten Hausboote, in denen schon die Briten zu Kolonialzeiten Zuflucht vor dem heißen Sommer Zentralindiens gesucht hatten.
Das New Rigadoon war eine Luxusherberge, baulich eine Mischung zwisehen Sheraton-Hotel und Hindu-Tempel.
Zamorra bezahlte den beleidigt vor sich hinstarrenden Fahrer, während Nicole bereits ausstieg und sich dem Seeufer zuwandte. In diesem Moment erschien ihr Kaschmir wirklich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Doch schon im nächsten Moment wurde sie von der rauen Wirklichkeit eingeholt.
Ein leises, reißendes Geräusch ertönte. Reaktionsschnell wirbelte die Dämonenjägerin herum. Doch es war schon zu spät.
Ein Straßenbengel hatte sich ihr lautlos genähert. Und dann blitzschnell die Außentasche ihrer gefütterten Wolljacke aufgeschnitten. Der Kleine griff zu. Und sprang davon, wie von allen Teufeln der Hölle gehetzt!
»Bei der Kotzkralle der Panzerhornschrexe!«, rief Nicole. »Der Mistkerl hat meinen Pass!«
Die Dämonenjägerin hatte ihren Reisepass in die Außentasche gesteckt gehabt. In dem Personaldokument lagen einige größere Rupienscheine. Doch das Geld war Nicole ziemlich egal. Wichtig war nur der Pass.
Wenn sie hier, in der Bürgerkriegsprovinz, ohne gültige Papiere herumlief, würde die berüchtigte indische Bürokratie ihr die Zähne zeigen.
Also tat die Französin das einzig Mögliche. Sie setzte dem Dieb nach. Auch Zamorra machte sich an die Verfolgung, nachdem er merkte, was geschehen war.
Nur der Taxifahrer blieb unbeeindruckt in seinem Hindustan Ambassador sitzen und zählte die Rupien, die er von Zamorra bekommen hatte.
»Geschieht ihnen recht, diesen europäischen Moslem-Freunden!«, sagte er zu sich selbst.
Ali Jama bebte vor Energie.
Er war unglaublich stolz auf seinen ersten Fischzug als Taschendieb. Einen fremden Pass hatte er erbeutet! Im Laufen sah er, dass sogar noch ein paar Rupienscheine zwischen den Seiten steckten.
Der Waisenjunge schickte ein schnelles Dankgebet zu Allah. Während er das tat, blieb er natürlich nicht stehen. Er rannte, so schnell sein ausgehungerter Körper es konnte.
Ali hetzte an der Werkstatt eines Ledermachers vorbei, der auf der Straße arbeitete. Der Junge sprang über die duftenden Gefäße, in denen der legendäre Kaschmirhonig angeboten wurde. Er warf das Warenlager eines Korbflechters durcheinander, schlug einen Haken und jagte in eine Seitengasse.
Doch die beiden Ungläubigen blieben ihm dicht auf den Fersen.
Ali lief jetzt Richtung Residency Road. Das war gefährlich, weil es hier im Stadtzentrum viele Militär- und Polizeipatrouillen gab.
Der blonde Mann rief dem jungen Dieb auf Englisch zu, stehen zu bleiben. Aber darauf hörte Ali Jama natürlich nicht.
Plötzlich erstarrte er.
Auf der Bund Road kam ihm ein Polizeijeep entgegen, mit aufmontiertem Maschinengewehr.
Nun war guter Rat teuer. Ali fühlte sich wie ein gehetztes Tier in der Falle. Hinter ihm die Fremden, vor ihm die indische Polizei.
Seine steile Karriere als Taschendieb würde enden, bevor sie richtig begonnen hatte. Doch da bemerkte er einen Ausweg.
Ein Kino.
Den Delhi Palace.
Ali Jama rannte in den Vorraum des Kinos, an der Kasse vorbei. Vor dem Saal stand ein bulliger Inder, der den Straßenjungen misstrauisch anlinste.
»Die Mujahedin!«, rief Ali. »Sie kommen!«
Angst flackerte im Blick des großen Inders auf. Wie die meisten friedlichen Einwohner von Srinagar hatte er keine Lust, bei den Bürgerkriegsschießereien sich eine verirrte Kugel einzufangen.
Also machte er sich dünn.
Ali Jama riss die Tür auf und betrat den verdunkelten Kinosaal. Er wollte im Schutz der Dunkelheit den Hinterausgang suchen.
Die Nachmittagsvorstellung war ausverkauft. Es roch nach süßlichen Knabbereien, billigen Zigaretten und aufdringlichem Parfüm.
Der Straßenjunge tastete sich durch die Sitzreihen. Er konnte nicht erkennen, ob er seine Verfolger abgeschüttelt hatte.
Hoffnung keimte in ihm auf - zum ersten Mal seit diesem furchtbaren Erlebnis in der Höhle.
Ali würde den Reisepass zu Geld machen können. Man bekam unglaublich viele Rupien für einen echten westlichen Pass. So viel hatte er auf den Straßen von Srinagar schon gelernt.
Mit dem Geld würde Ali in ein anderes islamisches Land reisen können. Von dort aus konnte er seine Heimat Kaschmir immer noch von den ungläubigen Hunden befreien…
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, kämpfte sich der Junge
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