0712 - Satan von Kaschmir
vergessen. Jeden Abend, wenn er sich in einem Innenhof oder Bretterverschlag zusammenrollte, hörte er im Schlaf wieder die Todesschreie der Mujahedin. Und das grauenvolle Hohngelächter dieser unheimlichen Macht.
Dann war Ali Jama dankbar für die Schüsse, die ihn regelmäßig aufweckten. In der Altstadt führten seine Glaubensbrüder einen unbarmherzigen Kleinkrieg gegen die indische Armee. Gerne wäre der Junge nachts durch die Straßen gelaufen, statt sich in einem Winkel zu verkriechen wie eine Ratte.
Doch das Militär hatte eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Ali wusste, dass einige der indischen Soldaten nervös waren. Er hatte keine Lust, sich eine vorschnelle Kugel einzufangen.
Der Vierzehnjährige gestand sich ein, am Leben zu hängen. Früher hatte er oft davon geträumt, als Krieger Allahs im Kampf gegen die ungläubigen Inder zu sterben, um danach direkt ins Paradies geholt zu werden. So, wie die Geistlichen in der Moschee es immer gepredigt hatten.
Doch das entsetzliche Erlebnis in der dunklen Höhle hatte Alis Glauben erschüttert. Es gab offenbar dämonische Kräfte, gegen die selbst fromme Moslems nicht gewappnet waren.
Das verwirrte ihn. Und es gab niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Die Moscheen musste er meiden, wie überhaupt die moslemischen Stadtteile von Srinagar. Schließlich hielten seine Glaubensbrüder ihn für einen Verräter.
Diese Ungerechtigkeit schmerzte Ali mehr als der eiskalte Himalaya-Wind, der nachts durch die Hauptstadt von Kaschmir pfiff. Der Mantel des Jungen hatte durch das getrocknete Blut seiner Kameraden und den Straßenschmutz eine undefinierbare Farbe angenommen. Aber wärmer war er dadurch nicht geworden.
Doch am nächsten Morgen, als die Sonne über dem Dal-See aufging, hatte Ali Glück.
Nachdem er sein vorschriftsmäßiges Morgengebet verrichtet hatte, fand der Junge im Müll ein fast neues Rasiermesser. Sie blitzte in der Sonne.
Zu seinem Bedauern wuchs ihm selbst noch kein richtiger Bart, doch er konnte das blinkende Stück Metall gut gebrauchen, um sich als Taschendieb ein paar Rupien zu verdienen.
Bei anderen Straßenkindern hatte Ali beobachtet, wie sie arglosen Leuten auf dem Markt die Taschen aufschlitzten und dann mit der Beute in der Menschenmenge verschwanden.
Der Vierzehnjährige dankte Allah und seinem Propheten Mohammed, dass sie die Rasierklinge vor seine Füße gelegt hatten. Er war sicher, dass sich sein Leben nun wieder zum Besseren wenden würde…
***
Zamorra und Nicole waren mit Air India von Paris nach Neu Delhi gejettet. Von dort erwischten sie nach einigen Stunden Wartezeit einen Inlandsflug nach Srinagar.
Die beiden Dämonenjäger waren schon oft genug in Indien gewesen. Doch Srinagar unterschied sich stark vom Rest dieses riesigen Subkontinents.
Die Hauptstadt von Kaschmir lag am Dal-See und am Jhelum River. Die Bergriesen des Himalaja, des höchsten Gebirgszugs der Welt, bildeten einen beeindruckenden Hintergrund.
Viele Kaschmiri waren offenbar Moslems. Dafür sprachen auch die zahlreichen Moscheen, deren Minarette die Skyline von Srinagar bestimmten. Die Männer und Frauen hatten mehr Ähnlichkeit mit Pakistanis und Afghanen als mit Indern.
Doch am auffälligsten war die knisternde Spannung, die in der Luft lag.
»Ich wusste ja, dass Indien die viertgrößte Armee der Welt hat«, bemerkte Nicole trocken, »aber nicht, dass die Jungs alle in Srinagar stationiert sind!«
Das war zwar übertrieben. Doch die Militärpräsenz war nicht zu übersehen. Bereits am Flughafen standen alle paar Meter schwer bewaffnete Sikh-Soldaten herum, die unter ihren Turbanen finster in die Gegend blickten. Die Maschinenpistolen hatten sie im Anschlag.
Auf Zollkontrollen wurde verzichtet, denn Zamorra und Nicole waren ja per Inlandsflug gekommen. Trotzdem wurden die Dämonenjäger und ihr Gepäck gründlich durchleuchtet.
Ein Uniformierter entschuldigte sich wortreich auf Englisch.
»Verzeihen Sie die Unbequemlichkeit, Memsabib und Sahib! Aber der Terrorismus, Sie verstehen… Es dient auch Ihrer Sicherheit!«
Als sie den Flughafen endlich verließen, fanden Zamorra und Nicole sofort ein Taxi. Sie ließen sich in das altersschwache Gefährt der indischen Marke Hindustan Ambassador fallen.
»Was für ein Glück«, seufzte Zamorra. »Ich dachte schon, das wären die einzigen Taxis hier!«
Er deutete mit dem Daumen auf ein halbes Dutzend Vijayanta-Panzer, die gegenüber dem Airport Aufstellung genommen hatten.
Der
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