072 - Die Schlangengöttin
wachsam, denn wir fürchteten immer noch, daß die Ophiten, deren Feier wir gestört hatten, uns hierher folgen würden.
Plötzlich hörte ich einen leisen Schritt. Eine schmale Gestalt näherte sich, ein Junge.
Pablo hielt das Messer in der Hand. Auch unter den Ophiten waren noch halbe Kinder gewesen. „Was willst du?" fragte ich den Jungen.
Er trat näher, und jetzt erkannte ich, daß es sich um keinen Jungen handelte, sondern um ein sehr hübsches Mädchen. Sie hatte lockiges, kurzes, dunkelblondes Haar und große Augen. Ihr Gesicht war fein geschnitten, der Mund voll und sinnlich.
Obwohl unsere Situation nicht dazu angetan war, überlegte ich mir, wie schön es sein müßte, ein solches Mädchen zur Freundin und Geliebten zu haben.
Das Mädchen schaute sich um, als fürchtete es, verfolgt zu werden.
„Ich muß mit euch reden", sagte sie. „Ich habe gehört, was ihr sagtet. Ihr müßt vorsichtig sein. Hier sind einige Ophiten. Der Schlangenclan hält oft in der Nähe der Höhlen seine Rituale ab. Auch in manchen Höhlen gehen Dinge vor, die das Tageslicht scheuen. Es heißt, daß die Große Schlange ihre Wohnung hier hat."
„Bist du sicher? Weißt du Genaues?"
„Genaues weiß ich nicht. Es ist gefährlich für einen Außenstehenden, für diese Dinge allzuviel Interesse zu zeigen. Man kann leicht von einer Giftschlange gebissen werden."
„Weißt du, wohin mein Bruder gebracht worden ist, Mädchen? Ein paar Ophiten haben ihn hierher geschleppt. Er kann nicht allzulange vor uns gekommen sein."
„Ich habe keine Ahnung. Wenn die Schlangenanbeter ihr Treffen haben - so wie heute nacht -, bleibt jeder in seiner Höhle, dem sein Leben lieb ist."
„Du bist aber nicht in deiner Höhle."
Sie warf stolz den Kopf zurück. „Ich bin nicht feige wie die andern. Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Junge mit den dunklen Augen? Ich habe vor nichts Angst." Sie lachte silberhell, und ich ärgerte mich ein wenig, weil sie mich Junge genannt hatte. „Das heißt aber nicht, daß ich mein Leben einfach wegwerfe oder für euch den Kopf hinhalte."
„Hast du nicht wenigstens einen Verdacht, wo mein Bruder sein könnte?“ fragte ich drängend. „Ich will ihn den Krallen des Dämons entreißen. Du bist doch ein Mensch, Mädchen, du kannst nicht zulassen, daß ein anderer Mensch durch eine Kreatur der Finsternis ein Schicksal erleiden muß, das viel schlimmer als der Tod ist."
„Ich kann euch nichts sagen", meinte sie. „Aber vielleicht weiß der alte Nathan etwas."
„Der alte Nathan?"
„Er ist blind und keiner weiß, wie alt er eigentlich ist. Er kann wahrsagen und aus der Hand lesen. Kommt mit! Ich bringe euch zu ihm."
Sie lief leichtfüßig vor uns her. Das Mädchen trug einen über die Knie reichenden Rock, eine Bluse und eine gestrickte Wolljacke mit Troddeln. Sie war sehr schlank, und ihr Gang und die runden Hüften faszinierten mich.
Der Baske packte meinen Arm. „Vorsicht, junger Herr, es könnte eine Falle sein!"
„Wenn es eine ist, dann überlebt sie es nicht", sagte ich. „Sie ist aber viel zu schön, um ein Geschöpf der Finsternis zu sein."
Es war Torheit, daß ich das sagte. Ich hätte es besser wissen müssen. Damals schon.
„Menschen kannst du töten, Dämonen nicht. Erinnere dich daran", flüsterte Pablo.
Ich tastete nach den Dämonenwaffen, die wir wohlweislich mitgenommen hatten. Bei dem Kampf gegen die entfesselten Ophiten in der Senke hatten wir diese Waffen nicht eingesetzt. Ich trug noch eine Pistole bei mir und hatte ein paar Silberkugeln in der Tasche. Pulverhorn und Lunten sowie den kurzen Ladestock besaß ich gleichfalls. Das kleine Kreuz war mir beim Kampf oder bei der Flucht aus der Tasche gefallen, aber den kupfernen Weihwasserbehälter hatte ich noch. Und der kurze Silberdolch steckte in der Scheide.
„Ich bin gewappnet", sagte ich. „Du kannst zurückbleiben, wenn dein Mut nicht ausreicht."
Pablo knurrte. „Einem andern würde ich die Hand aufs Maul schlagen, wenn er so etwas zu mir sagte. Ich habe deinem Vater, der mich von maurischen Piraten freikaufte, geschworen, auf dich aufzupassen und mit meinem Leben für dich einzustehen. Wir gehen zusammen, Michele."
Wir eilten gemeinsam hinter dem Mädchen her. Unterhalb einer am Rande gelegenen Höhle blieb sie stehen. Als wir herangekommen waren, stieg sie gewandt die in den Fels gehauenen Trittlöcher hoch. Der Rachen der hochgelegenen Höhle verschlang sie.
Noch einmal schaute sie kurz heraus und rief halblaut:
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