072 - Die Schlangengöttin
„Kommt! Worauf wartet ihr?"
Ich kletterte hinterher, und der Baske folgte mir.
Gegenwart
Ich erwachte. Sonnenlicht flutete hell ins Zimmer. Einen Augenblick lang war ich verwirrt und hatte Schwierigkeiten, zu mir selbst zu finden. Dann wurde mir bewußt, daß ich Dorian Hunter war, der Dämonenkiller, und im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts lebte.
Michele da Mosto, dessen Erlebnisse auf Kreta ich noch einmal nacherlebt hatte, war eine meiner früheren Wiedergeburten. Er war nun schon an die vierhundert Jahre tot, und es war seltsam, daß seine Erfahrungen und Sinneseindrücke in mir noch so lebendig waren.
Ich hatte die Welt des 16. Jahrhunderts mit den Augen eines Siebzehnjährigen gesehen. Ich konnte mich genau an den unangenehmen Kater erinnern, den Michele gehabt hatte, als er bei einer Feier zu Ehren des Geburtstags des Dogen zu viel trank. Ich wußte, wie die Küsse jener Oriana Dali schmeckten, und hätte ihren Körper und ihre Art, die sie beim Zusammensein mit Michele da Mosto an den Tag legte, genau beschreiben können. Ich dachte an die Ängste, die Michele ausgestanden hatte, und an seine Unbesonnenheit und Tapferkeit.
Es waren meine Erinnerungen, und die erste Zeit nach meinem Erwachen war ich völlig durcheinander. Dann verblaßten die Eindrücke in meinem Gedächtnis, und die Realität hatte, mich wieder. Die Nacht war vorbei.
Ich fragte mich, was in jener Höhle, in die ich mit Pablo dem Mädchen gefolgt war, geschah. Weshalb hatte mein Lebenstraum genau da geendet? Ich würde es noch erfahren.
Es klopfte, und auf mein Herein traten Thomas Becker und Peter Plank ins Zimmer. Ich machte mich fertig, zog mich an, und dann gingen wir in das kleine Lokal nebenan frühstücken. Bevor wir zum Polizeipräsidium fuhren, suchte ich das Logierhaus auf, in dem ich Xenia untergebracht hatte. Die Aufwartefrau sagte mir, Xenia wäre vor einer halben Stunde weggegangen, aber sie hätte hinterlassen, ich sollte hier auf sie warten.
Es dauerte nur zehn Minuten, bis das Mädchen kam. Thomas Becker und Peter Plank staunten sie an, denn sie wirkte jung, frisch und bildhübsch, gar nicht wie eine finstere Schlangenanbeterin. „Dorian", rief sie schon von weitem, „ich war auf dem Markt und habe mir etwas zu essen besorgt. Es wurde immer später, und ich hatte Hunger."
Dagegen war nichts einzuwenden. Es ging nun schon auf elf Uhr zu.
Wir fuhren mit einem Taxi zum Polizeipräsidium. Xenia wartete in einem Straßencafe in der Nähe. Im Präsidium sprachen wir mit dem Polizeipräsidenten und mit einem Kommissar. Das Gespräch nahm aber keine dramatische Wendung. Die beiden Männer zweifelten nicht an, daß wir harmlose Touristen waren.
Der Polizeipräsident entschuldigte sich wortreich für den gestrigen Vorfall. Er sprach von einer Sekte, der verrückte religiöse Fanatiker angehörten, und bezeichnete sie als Ophiten. Ein paar ihrer Mitglieder waren für diesen Wahnsinnsakt verantwortlich, so sagte der Polizeipräsident. Ein Motiv für die Tat konnte er sich nicht vorstellen.
Ich sah wieder einmal, wie die Behörden okkulten Vereinigungen, Geheimbünden und dämonischem Wirken machtlos gegenüberstanden. Es mußte schon knüppeldick kommen, bis ernsthafte Maßnahmen ergriffen wurden.
Wir verabschiedeten uns bald. Zu erst nahmen wir ein Essen ein, dann borgten wir einen Wagen bei einer Leihwagenfirma aus. Es war ein robuster Rover, der sich auch in schlechtem Gelände bewähren würde.
Bevor wir losfuhren, machte Peter Plank einen Vorschlag.
„Wenn die Hippies uns als Außenstehende betrachten, werden sie uns nicht viel sagen", meinte er. „Wir müssen als ihresgleichen auftreten."
Wir hielten an einer belebten Straße.
„Ich als Hippie?" fragte Professor Becker. „Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen."
Ich konnte es auch nicht. Thomas Becker war um die Fünfzig, ein Meter siebzig groß und hager. Sein Haar wurde schon schütter. Er war ein agiler Gelehrtentyp, bei aller Tatkraft und Energie eben doch ein Professor; so sah er aus, und daran änderten auch alte Jeans und Rollkragenpullover nichts. „Sie können ruhig Ihre wahre Identität zugeben, Professor", meinte Peter Plank. „Sagen Sie doch, daß Sie Professor für Psychologie und Soziologie sind und die Hippiekolonie studieren möchten. Mir wird jeder den Hippie abnehmen, und Dorian kann als eine Gammlerspätlese durchgehen. Wir sagen, Sie wären so freundlich gewesen, uns mit dem Wagen von Iraklion mitzunehmen."
So gefiel mir
Weitere Kostenlose Bücher