0729 - Die Bestien von Las Vegas

rief ihr der Uniformierte nach. »Sie haben doch noch nicht alles gesehen…!«
    »Oh, ich hab genug gesehen, Sir, danke«, gab Nicole über die Schulter zurück, schenkte dem Mann noch ein versöhnliches Lächeln, und dann war sie draußen.
    Sie wollte Zamorra informieren, dann mussten sie wiederkommen. Dass sie nichts direkt Bedrohliches hatte feststellen können, hieß noch lange nicht, dass es da nichts gab, was zur Gefahr werden konnte. Überdies hatte sie sich im Laufe der Jahre, da sie nun schon mit Zamorra gegen Dämonen, Geister, Vampire und so weiter antrat, vor allem zweierlei zur Gewohnheit gemacht: Lieber übervorsichtig zu sein als nachlässig - und sich auf ihr Gespür zu verlassen.
    Nicole verließ das Luxor.
    Draußen war die Nacht vollends angebrochen. Der Strip lag in künstlichem Licht.
    Aus dem Dunkeln jenseits der Neonhelle drang ein Heulen. So kurz nur, dass es eine Täuschung hätte sein können. Und außer Nicole schien es niemand gehört zu haben. Zumindest wandte sich keiner der Passanten danach um.
    Und so sah auch niemand, was Nicole auf der anderen Seite der sechsspurigen Fahrbahn sah, in den Schatten und Schemen zwischen einem rund um die Uhr geöffneten Mini-Mart und einer kleinen Motelanlage.
    Auf einen flüchtigen Blick hin hätte sie es womöglich nur für einen Staubwirbel gehalten.
    Aber Nicole sah nicht nur flüchtig hin…
    ***
    Selbst die Herrentoiletten im Mandalay Bay musste man als nobel bezeichnen: Marmor, Kristall, Goldimitation…
    Professor Zamorra trat um die Ecke in den Raum, in dem sich ein Dutzend Handwaschbecken unter einer gewaltigen Spiegelfront reihten.
    Über eines der Becken beugte sich ein Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und wusch sich das Gesicht. Obwohl er ihn erst am Vortag kennen gelernt hatte, erkannte Zamorra ihn selbst von schräg hinten.
    »Doktor Strongtree«, sagte er grüßend, während er sich an das Becken neben dem Anthropologen stellte, um sich die Hände zu waschen.
    »Oh, Professor, guten Abend.«
    Ihre Blicke begegneten einander im Spiegel.
    Fletcher Strongtree krempelte die Ärmel seines Hemdes nach vorne. Etwas hastig, wie Zamorra fand, und nur deshalb warf er einen flüchtigen Blick zur Seite und entdeckte dabei die dunklen Zeichnungen unter dem dichten Haarwuchs auf Strongtrees Unterarmen. Das eine schien ihm dabei so seltsam wie das andere: Zum einen ›litten‹ die amerikanischen Ureinwohner nicht unter Körperhaarwuchs, zum anderen handelte es sich bei den Tätowierungen nicht um irgendwelche Bilder wie etwa einen Adler oder Ähnliches, sondern eher um Schriftzeichen - wenn auch nicht um Zeichen eines Alphabets, das Zamorra kannte. Der flüchtige Blick, den er darauf erhascht hatte, ließ ihn eher an eine Bilderschrift denken.
    Doch bevor er weiter darüber grübeln konnte, ergriff Strongtree das Wort, und Zamorra konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der gute Doktor das tat, um ihn, Zamorra, eben daran zu hindern, sich darüber zu wundern, was er da gerade gesehen hatte…
    »Wie fanden Sie den ersten Tag unserer Veranstaltung, Professor?«
    »Interessant, wirklich sehr interessant«, antwortete Zamorra, ohne zu lügen oder auch nur zu übertreiben. Und mit einem leichten Seufzen ergänzte er: »Und anstrengend.«
    Strongtree lächelte ihm via Spiegelbild zu. »Ja, man hat Sie nach Ihrem Vortrag mit Fragen ziemlich gelöchert, nicht wahr?«
    »In der Tat.«
    »Aber das zeigt, mit welchem Interesse Ihr Referat aufgenommen wurde und wie zeitgemäß Ihre Thesen noch immer sind.«
    Zamorra hatte über Verbindungen zwischen der indianischen und der biblischen Mythologie gesprochen. Mit dieser Thematik hatte er sich vor vielen Jahren eingehender befasst, damals, als er vornehmlich in den USA gelebt und an der Harvard University gelehrt hatte. Die Vorbereitung auf diese Tagung hatte seine Interesse daran neu geweckt, der Vortrag selbst und die Gespräche danach hatten es noch geschürt.
    »Ich war verblüfft«, gestand er, »und angenehm überrascht. Auch darüber übrigens, wie weit Sie, mein Lieber, die anschließende Diskussion ausufern ließen.«
    »Das kam mir ganz zupass, muss ich gestehen«, erwiderte Strongtree. »Der Referent, der nach Ihnen aufs Podium sollte, ist leider nicht erschienen.«
    »Oh, stimmt«, bemerkte Zamorra. »Mister Yellowhorse, wenn ich mich recht an die Programmfolge erinnere?«
    Strongtree nickte. »Ja, Ben Yellowhorse. Nicht nur meiner Meinung nach einer der beschlagensten Experten in Fragen