0729 - Die Bestien von Las Vegas
Götter eben.
Doch davon nahm Nicole kaum etwas bewusst zur Kenntnis. Beinahe wie traumwandlerisch setzte sie Schritt um Schritt, und doch war sie wach und ganz bei Sinnen. Sie hatte das Gefühl, Scheuklappen zu tragen, die sie fast blind machten für alles, was links und rechts von ihr lag, und ihren Blick stur und starr auf ein bestimmtes Schaubild richteten…
Ein goldfarbener, mit Malereien verzierter, verschrammter Sarkophag stand hochkant in einer angedeuteten Grabkammer, der Deckel halb offen. Dahinter lugte, wie aus dem Sarg herausgerufen, eine ausgemergelte Gestalt hervor, teils in schmutzige Bandagen gehüllt, teils zeigte sich ihr verdorrtes Fleisch, das Gesicht eine wie von dünnem Leder überspannte Knochenfratze.
Davor stand, in gebieterischer Pose, eine weitere Gestalt. Der menschliche Leib bestand aus zum großen Teil gesprungenem und abgebröckeltem Stein, der nachgerade unangenehm lebensecht wirkende Schakalschädel mit den bernsteinartigen Augen war dagegen glatter, wie poliert, trotz der ziselierten Struktur des Felles.
Es handelte sich um eine Darstellung des ägyptischen Totengotts Anubis, seines Zeichens Schutzherr der Gräber und, mancher Sage nach, Gebieter über die darin Ruhenden - so wie er in dieser Darstellung hier einem mumifizierten Toten geboten hatte, seine letzte Ruhestatt zu verlassen.
Die Art und Weise, wie er dabei ein langstieliges Ankh- oder Henkelkreuz in den Händen hielt, sollte wohl suggerieren, er habe es mittels dieses Gegenstands getan. Die Hieroglyphe ›Ankh‹ stand, soweit Nicole wusste, für ›Leben‹, wurde auch als ›Lebensschleife‹ bezeichnet.
Wie auch immer - Nicole wusste sich am Ziel. Sie spürte, dass ihr sonderbares Gefühl von diesem Arrangement verursacht wurde.
Dennoch, auch jetzt, da sie davor stand, gab sich die dunkelmagische Kraft noch immer nicht zu erkennen. Nach wie vor vermochte Nicole sie lediglich zu fühlen, und dieses Gefühl wiederum konnte sie nicht in klare Worte oder auch nur Gedanken fassen.
Ohne wirklich darüber nachzudenken stieg Nicole über die Trennkordel, die zwischen zwei goldenen Pfosten hing, hinweg und trat unmittelbar an das Diorama heran.
Wovon ging diese Kraft aus, von welchem Teil der Darstellung?
Nicole streckte die Hände aus, berührte erst die Mumie, dann den Sarkophag. Beides bestand aus Kunststoff, wie sie unschwer feststellen konnte. Nur die Bandagen des ›Toten‹ waren echt.
Das Ankh und das Abbild des Anubis hingegen waren aus Stein. Unter ihren Fingerspitzen fühlten sie sich merklich alt an, auch wenn Nicole diesen Eindruck nicht konkret an etwas festmachen konnte.
Mehr jedoch erspürte sie nicht. Und es geschah auch nichts, was ihr Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, in irgendeiner Weise bestätigt hätte. Weder erwachte der schakalköpfige Götze zum Leben, noch tat dies die Mumie, und Nicole verspürte oder sah auch keine wie auch immer geartete magische Entladung oder etwas in der Art.
Merkwürdig…
Einen Moment lang zog sie in Erwägung, Zamorras Amulett zu rufen, entschied sich jedoch dagegen, aus mehrerlei Gründen. Zum einen fürchtete sie, die bloße Präsenz von Merlins Stern könnte die dunkle Kraft, die sie zu spüren meinte, womöglich provozieren und wecken, was sie tunlichst vermeiden wollte, schon um niemanden zu gefährden. Zum anderen wollte sie generell kein Aufsehen erregen, wenn es nicht zwingend sein musste.
Dazu kam noch, dass sie Zamorra nicht beunruhigen wollte - denn sorgen würde er sich zweifelsohne, wenn das Amulett, das er an einer Kette um den Hals trug, plötzlich verschwand. Er wusste dann zwar, dass Nicole es mit dem Ruf zu sich befohlen hatte, musste aber auch annehmen, dass sie sich in Gefahr befand.
Was also…?
»Ma'am?«
Nicole schrak aus ihren Gedanken hoch, und für einen winzigen Moment konnte sie sich fast selbst sehen beziehungsweise den durchaus seltsamen Anblick, den sie bot, wie sie dastand, mit den Händen über das steinerne Abbild des Anubis streichend wie ein Groupie über den eingeölten Körper eines Bodybuilders…
Sie ließ davon ab, als würde die Statue plötzlich glühend heiß, und fuhr herum. Daraufhin schrak der uniformierte ältere Mann, der wohl als Aufpasser fungierte, einen halben Schritt zurück, fasste sich aber wieder, flüchtete sich in ein höfliches Lächeln und sagte: »Ma'am, nichts berühren, bitte.«
Nicole nickte, murmelte ein »Sorry«, und machte sich davon.
»Sie müssen deswegen doch nicht gehen!«,
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