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0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

Titel: 0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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aus dem Lehrbuch. Trotzdem fürchtete ich, daß die dünne Oberfläche brach.
    Kein anderer war auf uns aufmerksam geworden. Die Spaziergänger und Langläufer bewegten sich auf der Mitte des Sees, wir beide waren ganz allein, und ich sah das Gesicht der jungen Frau in einer Höhe mit dem meinem.
    Es war vor Anstrengung verzerrt. Der Mund stand offen, sie keuchte und streckte mir ihre Arme entgegen.
    Ich wollte etwas sagen, hatte aber Furcht davor, es zu tun.
    Dann sprach sie. Stoßweise und keuchend drangen die Worte aus ihrem Mund. »John, wir… wir schaffen es. Beweg den rechten Arm auf mich zu - bitte…«
    Das mußte ich tun, auch wenn es leichter gesagt als getan war. Meinen Oberkörper spürte ich kaum noch. Ich hatte sogar das Gefühl, als hätte mein Herz zu schlagen aufgehört. Wenn sich ein Mensch je in einen Eiszapfen verwandelt hatte, so war das mit mir geschehen.
    Um Jessicas Hand näher zu kommen, mußte ich meinen rechten Arm im Halbkreis bewegen. Obwohl es mich drängte und es in meiner Nähe wieder gefährlich laut knirschte, riß ich mich zusammen und hielt mich an die Regeln.
    Ihre und meine Hand näherten sich einander, obwohl wir noch ziemlich weit voneinander entfernt waren und ich keine Sicherheit besaß, es auch zu schaffen.
    »Langsam, John, langsam! Keine Hektik, keine Aufregung. Wir packen das, John…«
    Ich wollte es auch.
    Sie schob sich näher.
    In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, als wären sämtliche Muskeln entgleist. Sie schaute mich auch nicht an, sondern schielte auf unsere beiden Hände.
    Kamen sie zusammen?
    Ja, die Fingerspitzen berührten sich. Das war für mich ein erster Hoffnungsschimmer.
    Nur nicht zucken.
    Nur keine zu hastige Bewegung.
    Die Sonne brannte gegen meinen Kopf. Von unten spürte ich- nichts mehr. Mein Körper schien nicht mehr vorhanden zu sein. Es war nur noch Eis.
    Jessica schluchzte auf, als sie sich noch weiter bewegte. Und diese wenigen Zentimeter reichten aus, um endlich die Finger krümmen zu können.
    Ich tat es ihr nach.
    Jetzt hakten wir uns aneinander.
    Pause.
    Sekunden nur, dann rutschte Jessica Long weiter nach vorn. Auch sie ging ein verdammt großes Risiko ein, als sie versuchte, mein Leben zu retten. Jeden Moment konnte sie einbrechen, dann waren wir beide verloren.
    Sie ruckte noch einmal.
    Hielt das Eis?
    Irgendwo knackte es.
    »Ich mach' weiter, John!«
    Wie sie das gemeint hatte, erfuhr ich sofort danach. Sie ließ mich für einen Moment los, streckte sich, so daß sie zupacken konnte.
    Jetzt hielt sie mein Gelenk.
    Sie weinte plötzlich, weil sie wußte, daß nun ein wahnsinnig schwieriger Teil der Rettungsaktion begann.
    Sie mußte mich rausziehen…
    Ich half etwas dabei mit, ohne die Beine richtig bewegen zu können. Ich wollte nur meinen Körper nach oben und nach vorn drücken, das war die Chance, dem eisigen Tod zu entwischen.
    Jessica Long behielt die Nerven. Es war schon bewundernswert, wie sie es schaffte. Sie schrie nicht, sie zitterte nicht, sie strengte sich nur unwahrscheinlich an und stand unter einer kaum zu beschreibenden Konzentration, obgleich sich die knirschenden und knackenden Geräusche, mit denen das Eis brach, verstärkt hatten.
    In diesen unwahrscheinlich lang werdenden Sekunden bewunderte ich Jessica mehr als alles andere auf der Welt, und ich spürte, wie ich allmählich, aber nur Millimeter für Millimeter, in die Höhe gezogen und dem eisigen Wasser entrissen wurde.
    Trotzdem hatten wir noch nicht gewonnen. Das Eis vor mir mußte halten. Ich hielt den Kopf leicht gebeugt, und ein scharfer Rand schnitt in meine Haut am Kinn wie die breite Klinge eines Rasiermessers.
    »Ich packe es!« keuchte sie und machte sich damit Mut. »Verdammt noch mal, ich packe es!«
    Ich gab keine Antwort. Irgendwie konnte ich auch nicht reden. Mein gesamter Körper war starr wie ein Eiszapfen. Ich hoffte nur, daß meine Konstitution stark genug war, dies hier ohne bleibende Schäden zu überstehen.
    Noch immer rutschte ich vor.
    Mein Atem pfiff. In Wolken drang er über meine Lippen hinweg. Ich stierte nach vorn auf die grünlich schimmernde, dünne Eisfläche. Als einzige Wärme spürte ich das aus der Kinnwunde rinnende Blut. Es hinterließ auf dem Eis einen rosigen Belag.
    Dann war es geschafft.
    Auch die Beine glitten aus dem eiskalten Wasser. Ich bewegte sie zum erstenmal, das heißt, ich versuchte es, aber es gelang mir kaum, sie anzuziehen.
    Sie waren einfach zu steif und erinnerten mich an Marmorstempel, die an meinem

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