0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
würde er zumindest eine Leiche hinterlassen. Was mit Dagmar geschehen war, wußte Elohim nicht. Er saß wieder auf der Bettkante und schielte zum Fenster. Das Rollo war nicht völlig nach unten gezogen worden, ein kleiner Spalt blieb frei, und durch diese Lücke schimmerten Lichter. Die ersten Vororte der Stadt waren bereits erreicht worden. Nicht mehr lange, dann würde die Schlange der Wagen den Bahnhof erreichen.
»Es tut mir nicht einmal leid«, sagte der Mann, »denn ich weiß, daß ich einer gerechten Sache diene. Sie dürfen dich nicht in Pontresina begrüßen. Es wäre für die Welt fatal.«
»Warum?«
»Muß ich dir das sagen?« flüsterte der Fremde.
»Ja.«
»Du weißt es genau, und ich lasse es nicht zu, daß du Zeit schindest. Man hat mich schon gründlich vor dir gewarnt. Vor einem netten, sogar charmanten Jungen, der so aussieht, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Das stimmt möglicherweise. Einer Fliege nicht, aber wie steht es mit den Menschen. Du bist kein normales Kind, du siehst nur so aus, du bist anders, und deshalb mußt du getötet werden.«
Der Mann hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als der Zug noch mehr an Geschwindigkeit verlor. Die negativen Kräfte machten sich bemerkbar. Der Mann mußte sich noch härter gegen die Rückenstütze drücken, um das Gleichgewicht zu bewahren.
Er richtete die Waffe auf den Jungen.
Sein Finger berührte den Abzug.
Er brauchte ihn nur um eine Idee nach hinten zu ziehen…
Elohim schaute ihn an.
Bereits in den letzten Sekunden hatte er eine ungewöhnliche Kraft gespürt, die in seinen Körper geströmt war und von ihm Besitz ergriffen hatte. Es war ein Gefühl, für das er keine Erklärung besaß. Es kribbelte in ihm, und gleichzeitig schien er über sich selbst hinauszuwachsen. Angst hatte er nicht mehr.
Er schaute den Fremden an.
Der sah in das Gesicht des Jungen, in die Augen…
Er stöhnte.
Plötzlich waren sie weiß geworden, strahlend hell, erfüllt von einem fast wahnsinnigen Licht. Sie sahen aus wie zwei Sterne, die vom Himmel gefallen und jetzt sehr nahe waren. Ein Blick, den er noch nie erlebt hatte, der ihm durchging, der ihn tief traf und etwas in ihm veränderte.
Er spürte Schmerzen…
Hart biß er die Zähne zusammen. Der Schweiß trat aus seinen Poren. Er wollte abdrücken und stellte fest, daß er seinen rechten Zeigefinger nicht mehr bewegen konnte. Dieses Glied war gelähmt wie alle anderen auch. Der Zeigefinger war steif geworden, denn der Blick hatte ihn gebannt.
Er hatte noch seinen Blick senken können und schaute nun zu, wie sich seine Hand nach unten senkte. Sie knickte einfach ab, drohte im nächsten Moment zu Boden zu fallen.
Damit rechnete er sogar. Statt dessen rutschte nur die schwere Waffe aus seinen Fingern, weil er sie nicht mehr halten konnte. Daß der Zug gehalten hatte, bekam er nicht mit, sein Blickfeld galt einzig und allein dem Jungen, der so ungewöhnlich lächelte und sich mit langsamen Bewegungen erhob.
Das Lächeln blieb. Es war kalt und hintergründig, gleichzeitig wissend und gefährlich.
Ein tödliches Lächeln…
Der Fremde hatte die Schmerzen erlebt, ohne sich dabei von seinem Platz bewegt zu haben. Noch immer drückte er sich mit dem Rücken gegen das Holz. Es war die einzige Stütze, doch auch die hielt nicht mehr lang, denn die Kraft rann aus seinem Körper. Zugleich verstärkten sich die Schmerzen, und ihm kam es vor, als würden tausend Messer durch seinen Körper jagen, um ihm von innen her die Haut aufzuschneiden.
Blut…
Er sah es nicht, er schmeckte es: Aus irgendeinem Quell schien es in seinen Hals zu schießen, und er hatte das Gefühl, daran ersticken zu müssen.
Er würgte, öffnete dabei den Mund, der offen blieb, allerdings mehrfach zuckte.
Er spie Blut auf den Teppich.
Dann fiel er selbst.
Ein letztes Röcheln drang aus seinem Mund. Er breitete noch die Arme aus, um sich an der Gestalt des Jungen festzuhalten, was er nicht schaffte, denn Elohim trat mit einer geschickten Bewegung zur Seite, so daß der schwere Körper des Mannes mit einem dumpfen Laut zu Boden fiel und sich nicht mehr rührte.
Es war vorbei.
Elohim wischte über sein Gesicht und berührte dabei auch seine Augenlider.
Dann atmete er tief durch.
Der Zug fuhr wieder an. In diesem Moment war auch der Fremde endgültig tot.
Bevor sich Elohim bückte, schaltete er das hellere Licht an. Dann rollte er den Körper zur Seite, damit er in das Gesicht des Toten schauen konnte.
Es sah aus,
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