0744 - Die Verwandlung
und über seine Lippen drang ein fauchendes Geräusch, als wäre er ein Tier, das es geschafft hatte, sich durch diesen Atemzug zu befreien.
Es war ein Laut, der Dagmar irritierte. Sie beugte sich zu ihm herab, um sich zu erkundigen, ob es Probleme gäbe.
Dr. Sträter lachte nur. Dabei drangen ungewöhnlich hohe und kichernde Laute über seine Lippen.
»Nein, es gibt keine Probleme. Es ist alles in Ordnung. Es ist sogar ideal. Ich fühle mich wohl.«
»Das ist gut.«
»Und jetzt laßt mich in Ruhe! Ich bin das Medium, ich werde Henoch rufen und ihm sagen, daß für ihn ein neuer Körper bereitsteht. Es wird auch für ihn eine Premiere sein, denn bisher war er nicht einmal ätherisch, sondern nur visionär. Doch er ist bereit, die Inkarnation einzugehen.«
»Mehr wollen wir auch nicht«, sagte Dagmar und trat zurück. Auch sie trug Spikes unter den Schuhen. Als ihr Gewicht das Eis belastete, fing es an zu knirschen.
Es war still geworden.
Niemand traute sich mehr, auch nur ein Wort zu sagen, um die weihevolle Stimme nicht zu unterbrechen. Selbst die Atmung schien bei einigen Menschen eingefroren zu sein. Über die Gesichter der Zuschauer huschten die Flammen und gaben der Haut ein schauriges Aussehen, denn dort vermischten sich dunkle Schatten mit einem unheimlichen roten Licht, das sogar in den Augen der Zuschauer tanzte.
Sie alle hatten lange genug gewartet, doch nun stand die Zeit dicht bevor.
Die Haltungen der Menschen waren unnatürlich steif geworden. Sie wirkten wie dunkle Figuren aus Eis, die sich der herrschenden Kälte angepaßt hatten.
Dagmar bewegte sich trotzdem. Sie legte beide Hände flach gegen Elohims Rücken und schob den Jungen so weit vor, bis er dicht neben dem Rollstuhl des alten Mannes stand. »Das ist dein Platz«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Was immer auch geschieht, du darfst und wirst ihn nicht verlassen. Verstanden?«
Er nickte.
Die Blicke der wichtigen Personen waren auf die beiden übergroßen Augen gerichtet, auf dieses visionäre Zeichen, das Henoch, einer der Urengel gegeben hatte.
Zunächst für alle, dann aber nur für ihn, denn der alte Dr. Sträter spürte etwas von dieser anderen Kraft, die unsichtbar auf ihn zufuhr, und er dachte daran, daß er über achtzig Jahre gebraucht hatte, um dies zu erleben.
Das hier war der große Augenblick, das war die Minute, auf die alles hinausgelaufen war.
Er war nicht gelähmt, aber er war so schwach, daß er aus eigener Kraft kaum laufen konnte. Wenn er es dennoch versuchte, brach er bereits nach wenigen Schritten zusammen.
Vor einigen Jahren noch hatte er dieses Schicksal verflucht, dann aber eingesehen, daß es einen Grund dafür gab. Es lag nicht allein an seiner Altersschwäche. Alles war genau auf diese eine Nacht hin ausgerichtet gewesen.
Die Augen waren das Zeichen.
Sie waren sein Zeichen, ebenso wie die Finsternis. Aber sie hatten ihnen allen klargemacht, daß es Dinge gab, die irgendwann in Erfüllung gehen würden.
Die Kraft war da.
Der Kopf des Alten war nicht mehr zur Seite gesunken. Alle hatten gesehen, wie er ihn anhob, und sie alle hatten es als ein gutes Zeichen erkannt.
Er löste auch die gichtkrumme Hand von der Rollstuhllehne und schaffte es, den Arm zu heben.
Es fiel ihm leicht.
Er lachte.
Bisher hatte er die Hand noch zur Faust gekrümmt gehabt. Als der Arm aber über der Lehne schwebte, da streckte er die Finger aus. Seine Gelenke knackten, was in der Stille deutlich zu hören war, ebenso wie das Kichern des Alten.
Es war ein Ausdruck der Freude. Was er hier geschafft hatte, war ihm seit Jahren nicht mehr gelungen.
Henochs Kraft hatte ihn bereits erreicht, und er konzentrierte sich wieder auf das Augenpaar am Hang. Er hatte das Gefühl, daß sich die Distanz zwischen den Augen stark verringerte.
Dunkle, glatte Pupillen waren von grellem Weiß der Augäpfel umgeben. Die Kälte war wie ein geistiges Gift, das gegen ihn strömte und nun von ihm aufgenommen wurde.
Henoch kam zu ihm…
Der Urengel hatte sein Flehen und seine Bereitschaft zu dienen erhört. Er akzeptierte ihn als Medium und als einen mystischen Katalysator, der den Geist zu seinem neuen Ziel hin begleitete.
Dr. Sträter hob auch den anderen Arm an. Dabei hatte er das Gefühl, von dem Druck jahrelanger Ketten befreit zu sein. Es klappte bei ihm wie bei einem Gesunden.
Zufrieden grunzte er.
Und er streckte dem Augenpaar die Arme entgegen, während sich seine Lippen bewegten. So drangen die ersten Worte aus seinem Mund. Sie waren
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