0753 - Die Blutbuche
ängstlicher geworden, und es war etwas mit seiner rechten Hand geschehen, über das er nicht reden wollte.
Legenden, alte Märchen, geheimnisvolle Geschichten über andere Welten und rätselhafte Waldvölker. Davon hatte Amos immer wieder gesprochen, sehr glaubhaft sogar, aber ohne dann doch richtig konkret zu werden.
Betty hatte die Tür geschlossen und betrat das kleine Bad. Es war nicht gekachelt, sondern mit Holz ausgekleidet worden und erinnerte an eine Sauna. Sie wusch ihr Gesicht, freute sich über das kalte Wasser und schaute dann in den Spiegel, um festzustellen, daß sie ziemlich alt und übermüdet aussah.
Auch das braune Haar hätte seine Frisur verloren. Es hing um ihren Kopf wie mächtige, dichte Garnknäuel. Ihr schmales Gesicht war als leidlich hübsch anzusehen. Vielleicht an den Wangen zu rund, der Mund hatte auch größer sein können, doch sie war im Prinzip mit sich zufrieden, und Betty gehörte auch zu den Leuten, die keine Schminke benutzten und rein auf die Natur vertrauten.
Sie ging in den Wohnraum. Umgezogen hatte sie sich noch nicht. Noch immer trug sie ihre grüne Bluse, die bis über den Gürtel der Jeans hinwegreichte.
Am Fenster blieb sie stehen.
Es war ein guter Platz, denn von hier aus konnte sie zur Blutbuche hinschauen, die alle anderen Bäume von der Masse her überragte. Nicht mal von der Höhe, sondern eher vom Umfang, der nicht nur als Stamm gewaltig war, sondern auch als Dach aus Geäst und Blättern bestand. Beides war so schwer, daß ein normales Gleichgewicht nicht gewährleistet werden konnte und sich der Baum mit Seinen langen Zweigen und knorrigen Ästen nach unten gebogen hatte, so daß er letztendlich aussah wie eine riesige Kugel. Einige Blätter waren abgefallen und lagen im Schutz des Baumes. Wer an den Stamm herantreten wollte, der mußte sich tief bücken, denn die Zweige wuchsen weit nach unten, beinahe schon vergleichbar mit denen einer Trauerweide.
Der Baum war etwas Besonderes. Stets hatte er auf die Carrs eine magische Anziehungskraft ausgeübt, aber nicht allein auf sie, auch Besucher zeigten sich beeindruckt, und es hatte ebenfalls Menschen gegeben, die beim Anblick des Baumes von einem Frösteln und einer Gänsehaut überfallen worden waren, denn für sie ging etwas Unheimliches von diesem Gewächs aus.
Da spielte es keine Rolle, ob es Tag oder Nacht war wie in diesem Fall, denn die Dunkelheit hatte das Licht verdrängt und den Himmel mit einem tiefblauen Tuch überspannt, auf dem der Vollmond wie ein gelbes Glotzauge wirkte.
Auch jetzt war der Baum zu sehen.
Er bewegte sich sogar, wenn der Wind gegen die Blätter fuhr und sie zum Zittern brachte. Hinzu kam der Mondschein, der ihn mit einem bleichfahlen Schein übergoß und manchen Blättern sogar einen sehr wertvollen Anstrich gab.
Der Baum beherrschte alles. Betty glaubte sogar daran, daß er selbst die Menschen unter seiner Kontrolle hielt, und das wiederum wollte ihr nicht passen, obwohl sie sich selbst als eine Freundin der Natur bezeichnete und sich einfach nicht vorstellen konnte, in einer waldlosen Betonwüste zu leben.
So war es nun einmal.
Das Haus stand am Rand eines Waldstücks. Wenn sie schräg an der Blutbuche vorbeischaute, konnte sie sogar die schmale Straße sehen, von der ein noch schmalerer Zufahrtsweg zum Haus hin abzweigte, der dann in einen freien Platz vor dem Gebäude mündete.
Nicht einmal ihr Hund war da.
Eines Tages war er verschwunden. Einfach so. Weg, nicht mehr aufgetaucht, als wäre der Dackel von einem bösen Geist geholt worden. Als sie an den Hund dachte, verstärkte sich das Frösteln.
Zusammen mit ihrem Mann war sie der Überzeugung, daß auch sein Verschwinden nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
Vor dem Fenster breitete sich eine gespenstische Landschaft aus. Es lag allein am Licht des Mondes, das seinen bleichen Schatten auf die Erde warf, den nahen Waldrand scharf konturiert hervorriß, aber trotzdem dafür sorgte, daß es noch genügend Schatteninseln gab, die zahlreichen Wesen als Versteck hätten dienen können.
Eine seltsame Nacht.
Und eine Nacht voller Bewegungen.
Zuerst glaubte Betty an eine Täuschung, denn sie hatte gesehen, daß sich nahe der Blutbuche und auch nicht weit vom Waldrand entfernt etwas bewegt hatte.
Dazu noch außerhalb des Gebüschs…
Ein Tier?
Sie wußte es nicht, vom langen Starren tränten ihr bereits die Augen, und sie wischte mit den Fingern darüber hinweg. Dann näherte sie ihr Gesicht noch mehr der Scheibe,
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