0754 - Der Zeitsauger
einen Schluck nahm.
Als er Zamorras leicht irritierten Blick bemerkte, lächelte Wilde schief. »Hey, keine Sorge, Professor. Ich bin Privatdetektiv. Von uns wird gewissermaßen erwartet, dass wir die ganze Zeit rauchen und trinken. Humphrey Bogart würde sich im Grab umdrehen, wenn wir gegen diese Regeln verstoßen.«
Wilde lachte über seinen eigenen Witz, nahm noch einen Schluck Whisky, verschluckte sich und brach in einen Hustenanfall aus, der sein Gesicht rot anlaufen ließ.
Zamorra hatte genug. Offensichtlich hatte der Detektiv irgendetwas gesehen, was ihm solche Angst machte, dass er sich erst einen antrinken musste, bevor er darüber reden konnte. Aber der Parapsychologe hatte schließlich nicht ewig Zeit.
»Allmählich reicht es mir, Mister Wilde«, sagte er. »Ich hatte einen langen Tag. Ich bin den ganzen Abend im Regen herumgelaufen. Ich bin zusammengeschlagen worden. Und ich musste eine Leiche untersuchen. Meine Geduld ist langsam am Ende. Wir sind schließlich hier, weil Sie mir etwas zu sagen hatten. Also spucken Sie's aus, oder ich gehe.«
Wilde wurde unvermittelt ernst. »Okay, schon gut.«
Er stellte das Glas weg. Dann nahm er einen tiefen Atemzug und schloss die Augen, als wolle er das, von dem er erzählen wollte, noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen lassen.
»Vor ein paar Wochen war ich auf Patrouille, in einem dieser Viertel, von denen ich sprach. Es war eine ruhige Nacht, kaum jemand auf der Straße. Um ehrlich zu sein, hatte ich an diesem Tag noch weniger Lust als sonst darauf, sinnlos in der Gegend herumzustehen und so zu tun, als würde das irgendwas bringen. Also beschloss ich, nach Hause zu gehen. Aber ich war gerade mal ein paar Schritte weit gekommen, als ich an einer Seitenstraße vorbeikam und ein Geräusch hörte. Ich schaute in die Gasse hinein und sah einen Mann, der eine Frau fest umklammerte. Zuerst dachte ich, die beiden wären ein Liebespaar oder so was.«
Wilde atmete tief durch. »Aber dann hörte ich das Geräusch wieder. Die Frau stöhnte. Und das war kein lustvolles Stöhnen, so viel war klar. Diese Frau hatte Schmerzen. Als mir das bewusst wurde, sah ich auch, dass sie versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien. Ich dachte, der Typ wäre vielleicht ein Vergewaltiger oder so was. Ich wollte schon dazwischen gehen, aber dann…«
Der Detektiv schluckte. Schweiß stand auf seiner Stirn. Automatisch suchte seine Hand das Whiskyglas, doch als Zamorra mit einem skeptischen Blick darauf die Augenbrauen hob, sammelte er sich wieder und fuhr fort.
»In diesem Moment ging so etwas wie ein… ein Leuchten von den beiden aus. Und plötzlich verschwamm die ganze Szene vor meinen Augen. Es war mit einemmal, als würde ich doppelt sehen. Oder dreifach, oder vierfach. Irgendwie wurde alles unwirklich. Ich konnte mich einfach nicht mehr rühren. Und dann war alles vorbei. Da stand nur noch ein Mann und vor seinen Füßen lag eine Frau. Der Mann blickte auf. Ich konnte ihn nicht genau sehen, denn er hatte den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen und den Hut ins Gesicht gezogen. Aber ich wusste… ich wusste, dass er mich ansah.«
Ein Zittern lief durch den Körper des Privatdetektivs. Auf seinem Gesicht war deutlich zu sehen, dass er um seine innere Fassung rang. Mit einer hastigen Bewegung nahm er sein Glas und leerte es in einem Zug.
Zamorra ließ ihm einen Moment Zeit und fragte dann: »Was haben Sie daraufhin getan?«
»Was wohl? Ich bin weggerannt. Als wäre der Teufel persönlich hinter mir her.«
***
Mittlerweile sah Zamorras Büro aus, als hätte ein Tornado darin gewütet. Diverse Bücher lagen offen herum, teilweise bedeckt von ausgedruckten Internetseiten.
Nicole brütete gerade über Berühmte Magier und Scharlatane Englands von C. W. Curry, einem umfangreichen Werk über das Leben verschiedener englischer Mystiker, als das Telefon klingelte.
Nicole sprang auf und hechtete über Eine ausführliche Geschichte der Stadt Manchester und ihrer Umgebung und Der Astrologe der Königin: das Leben des Dr. John Dee zum Computer und drückte die Enter-Taste. Sie hätte auch von ihrem Platz aus »Gespräch akzeptiert« sagen können. Aber vielleicht brauchte sie den Rechner gleich.
»Hallo, Chérie. Ich bin’s«, klang Zamorras Stimme aus dem Lautsprecher. Ein Bildfenster wurde auf dem Monitor nicht geöffnet, da Zamorra unterwegs nicht über ein Bildtelefon verfügte. Die Visofon- Anlage im Château Montagne war da noch mal um Längen besser, weil sie vom
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