0756 - Tod über der Tunguska
einen Wimpernschlag später waren die Dämonenjäger im Jahre 1908 gelandet. Sie konnten es sofort riechen. In der riesigen Stadt Paris wurde damals noch mit Kohleöfen geheizt, und die Fabriken jagten den Rauch ungefiltert in die Luft.
Nicole musste niesen. »Wir sind in der richtigen Zeit gelandet. Kein Zweifel.«
In diesem Moment kam ein Zeitungsjunge vorbei, der auf dem Bahnhof seine Ware verkaufen wollte.
»König Carlos I. von Portugal ermordet!«, krähte das Bürschchen. Zamorra und Nicole schauten sich gegenseitig an. Das war zweifellos ein Ereignis des Jahres 1908, wenn auch ein weltpolitisch weniger wichtiges.
Die Welt steuerte damals scheinbar unausweichlich auf den Ersten Weltkrieg zu, der dann wenige Jahre später - 1914 - auch wirklich ausbrach.
Aber wenn 1908 in der Tunguska eine unbekannte Macht die Erde rammt, dachte Zamorra düster, dann wird es auch keinen Ersten Weltkrieg geben… weil es dann nämlich keine Menschen mehr gibt, die sich gegenseitig abschlachten!
Immer wieder musste er sich das Zeitparadoxon vergegenwärtigen. Gewiss, die Menschheit hatte das Jahr 1908 überlebt. Aber vielleicht nur deshalb, weil er selbst, Zamorra, und seine Gefährtin Nicole in diese Zeit zurückgereist waren und die Katastrophe verhindert hatten?
Eines stand jedenfalls fest. Wenn ein solches Objekt, das die Sprengkraft von 2.000 Hiroshima-Atombomben hatte, nicht in der Luft explodiert wäre, sondern die Erdoberfläche getroffen hätte…
Zamorra schüttelte den Kopf. Es war nicht nötig, diesen Gedanken weiterzuführen.
Nicole, die sehr sensibel für die Stimmungen ihres Gefährten war, legte ihm ihre feingliedrige Hand auf den Unterarm.
»Wir werden es packen, Chéri. Es wird unsere Welt auch im Jahre 2003 noch geben.«
Zamorra lächelte ihr zu.
»Sicher, Chérie. Und die unheimliche Macht, die hinter den Tunguska-Ereignissen steckt, knöpfen wir uns jetzt vor…«
Die beiden Dämonenjäger begaben sich zur nächsten Filiale der Crédit Lvonnaise. Zamorra hatte bei einer früheren Zeitreise ins 19. Jahrhundert dort ein Konto eröffnet. Er hob genug Geld ab, um mit dem Zug nach Sibirien zu reisen. Die Ausrüstung, mit der sie in das unzugängliche Tunguska-Gebiet vorstoßen wollten, würden sie vor Ort kaufen.
Noch am selben Tag brachen Zamorra und Nicole vom Gare du Nord aus nach Berlin auf. Von dort sollte ihr Weg sie nach Moskau und dann noch weiter östlich führen.
»Wie gut, dass die Transsibirische Eisenbahn schon 1896 gebaut wurde«, sagte Nicole schmunzelnd. »Sonst wären wir noch viel länger unterwegs.«
Die verschiedenen Teilstrecken der Transsibirischen Eisenbahn waren die einzigen modernen Verkehrswege zwischen dem Ural-Gebirge und der russischen Pazifikküste. Die Züge brachten den Menschen Wohlstand und Arbeit, denn sie ermöglichten erst den Abbau der riesigen Bodenschätze Sibiriens. Im 19. Jahrhundert war die Bahn das beste Verkehrsmittel, um zumindest in die Nähe der Tunguska-Region zu gelangen.
Die Fahrtzeit bis nach-Wladiwostok betrug trotzdem zwanzig Tage. Es ging quer durch das unvorstellbar große Russische Reich. Je weiter sie nach Sibirien vordrangen, desto öfter hörten sie von beunruhigenden Phänomenen. Wenn neue Mitreisende zustiegen, erzählten sie von Rentierkälbern mit zwei Köpfen, die vor kurzem geboren wurden. Oder von düsteren Weissagungen des jeweiligen Sippen-Schamanen, von Flüssen, die plötzlich rückwärts flossen…
Zamorra kannte solche Beobachtungen. Selbst wenn man den Aberglauben abzog, blieb viel Wahres daran. Die Natur spürte instinktiv die bevorstehende Bedrohung. Und sie warnte mit den Mitteln, die sie aufbringen konnte. Nur hatten die meisten Menschen verlernt, die Sprache der Natur zu verstehen. In Sibirien hingegen, gab es noch relativ viele Weise, die mit den unsichtbaren Kräften des Kosmos in engem Kontakt standen. Sie nannten sich Schamanen. Und einige von ihnen hatten offenbar bereits erkannt, dass der Tunguska eine unvorstellbare Katastrophe drohte…
»Die Götter zürnen uns!«, sagte eine alte Frau zu Zamorra. Sie sprach nur gebrochenes Russisch. Ihre mongolischen Gesichtszüge und ihr traditionelles Gewand aus Filzstoff verrieten, dass sie zu den einheimischen Sippen Sibiriens gehörte. Die östlichen Völker des riesigen Landes waren zwar russische Staatsbürger, aber von ihrer Herkunft und Religion her ganz eindeutig Asiaten. Es gab unter ihnen einige Moslems und Buddhisten. Doch viele Stämme und Sippen huldigten
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