0756 - Tod über der Tunguska
immer noch ihren eigenen Stammesgöttern. Die Schamanen waren es, die den Kontakt zwischen der Menschen-, der Götterund der Geisterwelt herstellten.
Die Russen waren in den riesigen östlichen Gebieten ihres Reiches im Grunde nur Kolonialherren. Sie erteilten die Befehle und bestimmten das Schicksal dieser Landstriche. Auch ihre Religion, das Christentum der Russisch-Orthodoxen Kirche, brachten sie den Einheimischen als den allein selig machenden Glauben mit.
Und doch war die Bindung der Menschen an ihren traditionellen Glauben unvorstellbar stark. So gab es auch im Jahre 2003 in Sibirien noch Schamanen, die hoch geehrt wurden und ihren Zaubereien nachgingen, wie Zamorra bekannt war.
»Welche Götter, Mütterchen?«, wollte Zamorra wissen.
Er und Nicole saßen der Alten gegenüber, und zwar in der drangvoll-engen ›Holzklasse‹, wie die Dritte Klasse der Eisenbahn genannt wurde. Die Luft war geschwängert vom Rauch der Papyrossa-Zigaretten und Tabakspfeifen der alten Männer. Es roch nach gebrauchten Windeln und nach Knoblauch, nach Sesamöl und Hühnern, die im Gepäcknetz mitreisten.
Der Schaffner hatte Zamorra und Nicole fast für verrückt erklärt, als sie von der Ersten in die Dritte Klasse gewechselt waren. Aber nur hier, zwischen den Einheimischen, konnten die Dämonenjager wichtige Hintergrundinformationen bekommen.
In der Ersten Klasse reisten nur reiche Fellhändler und hohe Beamte sowie Offiziere. Russen, für die Sibirien genauso fremd war wie für Zamorra und Nicole. Die beiden Franzosen konnten von diesen Passagieren garantiert nichts Wichtiges erfahren. Dafür aber umso mehr von Menschen wie dieser runzligen alten Frau, die den Dämonenjäger nun misstrauisch anschielte.
»Warum wollt Ihr das denn wissen?«, fragte sie.
Zamorra zuckte mit den Schultern. Er reichte der Greisin ein Glas Tee, das er soeben bei einem der fliegenden Händler erstanden hatte, die überall im Zug herumspukten.
»Weil ich neugierig bin!«, antwortete er.
Die Alte schmunzelte und ließ den Tee in ihren zahnlosen Mund laufen. Zuvor hatte sie sich ein großes Stück Zucker zwischen die Lippen gesteckt.
»Ich habe in meinem langen Leben die Menschen kennen gelernt, mein Herr. Und ich glaube, dass ich Euch vertrauen kann. Mir ist das mit dem Zorn der Götter so herausgerutscht. Man muss ja aufpassen, was man sagt. Es wird nicht gern gesehen, wenn wir nicht von der alten Religion lassen können…«
»Ich bin kein Missionar der Russisch-Orthodoxen Kirche«, sagte Zamorra wahrheitsgemäß.
»Das spüre ich, und darum vertraue ich Euch auch, mein Herr. Ihr seid jemand, der das Leben kennt. Ihr habt Dinge gesehen, von denen sich die meisten Menschen noch nicht einmal in ihren Albträumen eine Vorstellung machen.«
Zamorra zuckte mit den Achseln. »Herumgekommen bin ich schon, das stimmt.«
Nicole hatte das Zwiegespräch ihres Gefährten mit der mindestens achtzig Jahre alten Greisin schweigend verfolgt.
Sie beteiligte sich nicht daran, weil sie eine gewisse innere Unruhe spürte.
Nicole schaute hinaus auf die Landschaft, die draußen vor dem Fenster vorbeizog. Es war die Tundra, jene sibirische Steppe, auf der wegen der zu kurzen und kühlen Sommer kein einziger Baum wächst. Nur Flechten, Moose und Zwergsträucher konnten sich in diesem rauen Klima halten. Von diesen Pflanzen ernährten sich die riesigen Rentierherden, die links und rechts der Bahnstrecke zu sehen waren.
Aber es waren nicht die Rentiere, die Nicole in eine unbestimmte innere Unruhe versetzten. Ein ungreifbares Gefühl, aufregend und abstoßend zugleich, hatte von der Dämonenjägerin Besitz ergriffen. Sie erhob sich von der Holzbank.
»Ich vertrete mir mal ein wenig die Beine, Chéri.«
»Tu das.« Zamorra hatte natürlich ebenfalls bemerkt, dass mit Nicole etwas nicht stimmte. Aber er wusste genau, dass sie alt genug war, um auf sich selbst Acht zu geben. Nicole hatte sich nicht nur selbst bereits unzählige Male aus lebensgefährlichen Situationen gerettet, sondern auch ihn, Zamorra, oft genug vor dem sicheren Tod bewahrt. Sie war ganz sicher kein hilfloses Püppchen, das man keine Sekunde aus den Augen lassen durfte.
Daher hatte Zamorra keinen Anlass, sich wegen ihres Spaziergangs Sorgen zu machen. Ab und zu musste man einfach aufstehen, denn bei dieser tage- und nächtelangen pausenlosen Zugfahrt rosteten die Gelenke regelrecht ein.
Natürlich hatte er ihre Aufregung bemerkt, die sich für ihn eindeutig durch die plötzlich auftretenden
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