0756 - Tod über der Tunguska
mich prügeln, umso sicherer fühlen sich meine Mitgefangenen, diese gottlosen Aufrührer. Sie würden niemals auf die Idee kommen, dass ich in Wahrheit für Seine Majestät den Zaren arbeite.«
»Gewiss. Hast du mir etwas Neues zu berichten?« Der Kommandant beugte sich gespannt vor.
»Nun, da wäre dieser alte Gregor, der die Behandlung durch die Knute nicht überlebt hat…«
Leutnant Baldew zuckte gefühllos mit den Schultern. »Was soll’s? Etwas Schwund gibt es immer!«
Dimitri lachte dreckig. »Gewiss, Herr Leutnant. Aber bevor dieser Gregor krepiert ist, hat er noch von einem nahenden Retter erzählt, einer Art anarchistischem Messias…«
Und der Spion gab sinngemäß das wieder, was der Alte auf dem Sterbebett gesagt hatte. Er fügte hinzu: »Eine ziemlich gute Personenbeschreibung, nicht wahr?«
Leutnant Baldew nickte gedankenverloren. Er zog eine Packung Papyrossi [5] aus dem Uniformrock, bot dem Spion eine an und gab ihm Feuer. Anschließend steckte er sich selbst eine Zigarette zwischen die Lippen.
Die Männer rauchten schweigend. Nach einigen Minuten ergriff der Kommandant wieder das Wort.
»Was hältst du von der Sache, Dimitri?«
»Könnte was dran sein, Herr Leutnant. Bei diesen gottlosen Anarchisten weiß man nie. Sie haben ja teilweise Verbindungen bis in höchste Gesellschaftskreise. Manche von ihnen stammen ja offenbar sogar aus angesehenen Familien. Ich denke, dieser elegante Genosse, dessen Name mit Z anfängt, ist tatsächlich auf dem Weg hierher. Und vielleicht kann uns der Kerl wirklich gefährlich werden…«
Leutnant Baldew biss die Zähne aufeinander.
»Immerhin kennen wir nun die Gefahr! Das Beste ist, du kehrst einstweilen nach Irkutsk zurück, Dimitri. Informiere deine Vorgesetzten bei der Ochrana. Sie sollen auch entscheiden, wo du als Nächstes eingesetzt wirst. Hierher kannst du jedenfalls nicht zurückkehren. Deine Mitgefangenen würden sich wundern, warum ich dich nicht totprügeln ließ.«
»Vielleicht«, sagte der Spion mit einem gemeinen Lächeln, »vielleicht werden Sie ja schon bald an meiner Stelle diesen anarchistischen Messias hier im Lager haben.«
Leutnant Baldew grinste in widerwärtiger Vorfreude und spielte mit seiner Reitgerte.
»Das wäre schön, Dimitri! Ich kenne jedenfalls eine Menge netter Dinge, die ich mit ihm anstellen könnte…«
Wie auf Kommando brachen die beiden Männer in ein dreckiges Gelächter aus…
***
Gare du Nord, Paris, Gegenwart
Zamorra und Nicole schlichen in eine dunkle Gasse hinter dem Bahnhof in der französischen Hauptstadt.
Der Dämonenjäger war ganz im Stil des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts gekleidet, mit Gehrock, Zylinder, Weste, Gamaschen und Spazierstock. Auch Nicole ging in ihrem bodenlangen Reisekleid mit passendem Mantel und Hütchen sowie Handtasche als Dame der Jahrhundertwende-Zeit durch.
Wenige Passanten liefen vorbei, nahmen aber keinen Anstoß an der ungewöhnlichen Kleidung. Auf den Boulevards von Paris erblickte man schließlich jeden Tag Menschen in den verrücktesten Kostümen, die für irgendetwas Werbung machten oder sich einfach nur selbst darstellen wollten.
Aber weder das eine noch das andere lag in der Absicht der beiden Dämonenjäger.
Sie hatten die richtige Kleidung für ihre Zeitreise angelegt. Lange hatten sie überlegt, von wo aus sie ins Jahr 1908 starten sollten. Schließlich hatten sie sich für Paris entschieden, obwohl sie von dort aus noch einen langen Anfahrtsweg in die sibirische Tunguska-Region hatten. Aber es war einfach sicherer, wegen der besonderen Wirkungsweise von Merlins Zeitringen, mit denen sie reisen wollten.
Die Rückkehr in die Gegenwart musste nämlich vom selben Ort aus erfolgen, an dem sie in der Vergangenheit angekommen waren. Und da war es einfach zu risikoreich, einen Platz in Russland zu wählen, wo sich so viel verändert hatte. Vor allem in der Tunguska-Region…
Die Gegend um den Bahnhof Gare du Nord in Paris unterschied sich im Jahre 2003 nur geringfügig von dem Zustand, in dem sie 1908 gewesen war. Das hatte Nicole recherchiert.
Die beiden Dämonenjäger stellten sich in eine Toreinfahrt. Zamorra schaute seine Gefährtin an.
»Bist du bereit, Nici?«
»Klar, Chef.«
Nun begann Zamorra damit, den roten Vergangenheitsring an seinem Finger zu drehen. Seine Lippen formten dabei Merlins Machtspruch: » Anal'h natrac'h - ut vas hethat — doc'h nyell yenn vvé.«
Es funktionierte auf Anhieb. Der Zeitkreis öffnete sich. Nur
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