0756 - Tod über der Tunguska
Tunguska, Sibirien, Russland, Juni 1908
Ein monotoner Rhythmus bestimmte die Arbeit im Steinbruch. Die Abbruchhämmer und Spitzhacken krachten mehr oder weniger im Einklang auf den sibirischen Granit, der hier abgebaut wurde.
Oleg Petrow bezweifelte, ob man mit dem minderwertigen Gestein auch nur eine lausige Kopeke verdienen konnte. Die Drecksarbeit diente offenbar nur dazu, die Gefangenen zu quälen.
Denn wenn die abgehetzten armen Teufel ihr Soll nicht schafften, dann bekamen sie die Peitschen der Wächter zu schmecken. Oder Schlimmeres…
So wie jetzt gerade, beispielsweise.
Oleg hieb mit seiner Spitzhacke auf einen größeren Felsen ein. Immerhin schaffte er es, faustgroße Stücke aus dem Gestein zu schlagen.
Doch der Mitgefangene neben ihm, ein schmächtiges Männchen namens Dimitri, packte es nicht. Nur ab und zu ein paar kieselgroße Steinchen, das war alles, was er dem Felsen abgewinnen konnte. Daher war es kein Wunder, dass die Schubkarre neben Dimitri immer noch fast leer war.
»Jetzt reicht es mir, du fauler Kerl!«
Die raue Stimme eines Aufsehers unterbrach den monotonen Arbeitsrhythmus. Gleich darauf knallte die Peitsche. Der Riemen wurde über Dimitris Rücken gezogen.
Der kleine Gefangene jaulte auf.
Oleg krampfte seine Hände um die Spitzhacke. Gerne hätte er das Werkzeug eingesetzt, um dem Aufseher damit den Schädel zu spalten. Wild loderte der Hass des jungen Anarchisten auf, doch er musste sich zusammenreißen, wenigstens für den Augenblick. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Wenn Oleg jetzt den Aufseher angriff, würden die Wachtposten ihn mit ihren Gewehrkugeln zersieben. Der ganze Steinbruch war von schwer bewaffneten Uniformierten umstellt. Und als Leiche konnte er nicht mehr für die gerechte Sache der Revolution kämpfen!
Oleg beschloss zähneknirschend, seine Rache einstweilen auf Sparflamme kochen zu lassen. Also hieb er auf den Felsen ein und stellte sich vor, es wäre die Visage von Leutnant Arkadi Baldew…
Dimitri ging gleich beim ersten Peitschenhieb zu Boden.
»Bitte nicht!«, jammerte er. »Ich kann nichts dafür! Ich…«
»Ach, ich mache mir doch nicht die Hände an dir schmutzig, du Sohn eines räudigen Tundra-Wolfs!« Der Aufseher bedachte den Gefangenen mit einer verachtungsvollen Geste. »Leutnant Baldew hat Anweisung gegeben, dich bei der kleinsten Auffälligkeit sofort zu ihm zu schaffen. Er wird schon wissen, wie man mit deinesgleichen umspringen muss…«
»Nein!« Dimitri rang die Hände, rutschte auf den Knien vor dem Aufseher herum. »Bitte nicht zu Leutnant Baldew, Väterchen! Ich will auch alles tun…«
»Das hättest du dir früher überlegen sollen«, erwiderte der Aufseher und deutete mit dem Peitschenstiel anklagend auf die kaum gefüllte Schubkarre. Dann packte er den wimmernden Dimitri am Kragen seiner Gefangenenkluft und schleifte ihn quer durch den Steinbruch Richtung Lager.
Oleg Petrow schickte dem uniformierten Schergen zornige Blicke hinterher.
Leutnant Baldews Büro befand sich in einer der Blockhütten. Hinter dem schweren Eichenschreibtisch befand sich in einer Ecke die russische Fahne, in der anderen ein lebensgroßes Brustbild des Zaren. In der Mitte stand ein riesiger Aktenschrank. Das Büromöbel wurde ständig mit den neuesten Vorschriften und Gesetzen des russischen Strafvollzugs gefüttert. Und direkt vor dem Aktenschrank thronte Leutnant Baldew. Aus seinen heimtückischen kleinen Augen blinzelte er den zitternden Gefangenen an.
»So, du Made willst mich also zum Narren halten? Ausprobieren, wie weit du bei mir gehen kannst? Das soll dir schlecht bekommen!« Er wandte sich an den Aufseher. »Du kannst allein in den Steinbruch zurückkehren. Ich glaube nicht, dass er heute noch in der Lage sein wird weiterzuschuften.«
Der Wächter grinste gemein. »Sehr wohl, Herr Kommandant!«
Der Uniformierte verließ zackig den Raum, die zusammengerollte Peitsche unter dem Arm. Als er die Tür hinter sich schloss, stieß der Gefangene bereits einen furchtbaren Schrei aus.
Leutnant Baldew und der nur scheinbar vor Angst halb tote Dimitri grienten sich gegenseitig an!
Der Lagerkommandant holte eine Flasche Wodka aus dem Schrank und füllte höchstpersönlich zwei Schnapsgläser mit dem ›Wässerchen‹.
»Ich hoffe, der Wächter hat nicht zu stark zugeschlagen, Brüderchen Dimitri! Aber es muss nun mal sein.«
»Unbedingt, Herr Leutnant! Wir bei der Ochrana sind es gewohnt, Schmerzen zu ertragen. Außerdem: Je mehr Ihre Männer
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