076 - Die Jenseitskutsche von Diablos
Pete Muller,
der junge Lehrer aus dem englischen Seebad Brighton, war mit der Unterkunft
einverstanden. Ebenso seine junge Frau. Sie brachten ihr Gepäck, das unten im
Flur stand, herauf und bereiteten sich dann auf das Abendbrot vor. Die
Tatsache, dass sie praktisch die einzigen Gäste waren, die in dem großen
Gebäude nächtigten, berührte sie wenig. Sie dachten nicht mal darüber nach. Sie
waren von all dem Neuen und mit sich selbst und ihrem jungen Glück so
beschäftigt, dass sie dafür keine Nerven hatten. Hans Marner war ebenfalls noch
auf der Burg.
Er wartete die Dunkelheit ab. Die Zeit bis dahin
vertrieb er sich, indem er stundenlange Wanderungen unternahm. Allein die Burg
und ihre Räumlichkeiten zu besichtigen und die ausgedehnten Gärten zu
durchwandern, nahm viel Zeit in Anspruch. In einem dunklen Torbogen wartete er
die letzte Fahrt der Kutsche ab. Marner rechnete nicht mehr damit, dass sie
noch einen Gast mitbrachte. Er sah sich getäuscht. Es kam jemand, ein junger
Mann. Er trug einen schwarzen, vorn aufgeknöpften Mantel. In der Hand hielt er
einen kleinen Weekend-Koffer. Der Besucher hatte dunkles, welliges Haar und
eine glatte Gesichtshaut. Er verschwand in dem Restaurant und wurde dort von
Kellner Alfredo empfangen. Der Kutscher spannte die Pferde aus und brachte sie
in den Stall. Marner konnte es kaum erwarten, bis der Mann die Kutsche verließ
und in dem Gebäudeanbau verschwand. Hier wohnten offensichtlich alle
Angestellten der Herberge.
Vier oder fünf weitere, die in Küche und Haus
arbeiteten, hatte er im Lauf des Tages kennengelernt. Sie waren alle
verhältnismäßig ruhig und fielen dadurch auf, dass sie nicht sonderlich viel zu
tun hatten. Was kein Wunder war bei dem schwachen Betrieb hier oben. Die
Herberge lag zu weit abseits, und Marner konnte sich nicht vorstellen, wie der
Geschäftsinhaber überhaupt auf seine Kosten kam. Der Deutsche ließ nach dem
Verschwinden des bulligen Kutschers im Gesindehaus einige Minuten verstreichen.
Dann näherte er sich, diesmal im Schutz der Dunkelheit, der Stelle, wo die
Kutsche unter dem vorspringenden Dach stand.
In der Dunkelheit konnte ihn niemand sehen, und weder
Alfredo noch die anderen wussten, dass er sich noch hier oben befand. Offiziell
war er längst wieder den Berg hinabgegangen, um noch vor Einbruch der
Dunkelheit an seinem Wagen zu sein und sich nicht in der Nacht zu verirren, wie
es manchem in dieser Gegend schon passiert war. Leise quietschend schwang die
Kutschentür zurück. Marners Blick fiel sofort auf den Boden vor der Sitzbank.
Ein heller Fleck! Der Mann griff danach und fühlte den weichen, seidigen Stoff
zwischen den Fingern. Er führte den Fetzen an die Nase.
»Petras Parfüm!«, entfuhr es ihm unbewusst halblaut.
Sie war in der Kutsche gewesen und war mit dem Morgenmantel offensichtlich an
einem Nagel hängen geblieben. Die Jenseitskutsche von Diablos... dieser von
Miguel Bazo benutzte Begriff kam ihm wieder in den Sinn. Ob doch etwas dran war
an dieser unglaublichen Geschichte? Marner steckte das gefundene Stoffstück ein
und drückte vorsichtig die Tür wieder ins
Schloss. Leise schnappte sie ein. Die Kutsche kehrte immer wieder hierher
zurück. Demnach war auch Petra hierher gebracht worden! Aber – wozu? Angst
krallte sich in sein Herz. Sie musste noch hier sein, und er musste sie
finden... Einweihen konnte er niemand. Die Menschen, die hier in der Einsamkeit
lebten, kamen ihm alle unheimlich vor. Das Küchenpersonal, die beiden
dunkelhaarigen Mädchen, denen er an diesem Tag mal im Korridor begegnet war...
sie alle waren schweigsam und abwesend, als würden sie gar nicht mehr richtig
in diese Welt gehören. Auch die Tatsache der Isolation hier oben ließ ihm keine
Ruhe. Mit dem Auto kam niemand herauf. Die Menschen, die hier lebten und
arbeiteten, mussten zu Fuß den unwegsamen Pfad gehen oder die dreimal am Tag
fahrende Kutsche benutzen.
»Hans!«
Seine Nackenhaare sträubten sich, als er die Stimme
hörte. Er wirbelte herum.
»Petra!« Er konnte es nicht fassen. Sie stand im
Dunkel des Tores, das etwa zehn Schritte von ihm entfernt lag. Sie trug ihren
roséfarbenen Morgenmantel und winkte ihm. Er lief auf sie zu. Das konnte nur
ein Traum sein...
Kein Mensch konnte hier in der Höhe bei der Kälte so
herumlaufen. Er selbst hatte eine gefütterte Jacke an und fror immer noch. Es
war den ganzen Tag merklich kühl. Aber mit dem Einbruch der Dunkelheit fiel die
Temperatur, und der Wind wurde stärker. Er wehte
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