0763 - Strigen-Grauen
es gewesen.«
Ich nickte.
Das verwunderte sie. Ein paar letzte Tränen tupfte sie weg und fragte dann: »Sie lachen mich nicht aus? Warum tun Sie das nicht? Warum halten Sie mich nicht für eine Spinnerin, für eine völlig überdrehte Person, Mr. Sinclair?«
»Müßte ich das?«
»Klar, das müßten Sie. Nach dem, was ich Ihnen erzählt habe, können Sie mich nur für verrückt halten.«
»Nein, ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich Ihnen glaube.«
Jetzt starrte sie mich an, als hätte ich ihr einen schlimmen und unglaublichen Antrag gemacht. Der Kopf hatte eine etwas steife Haltung angenommen. Dadurch straffte sich die Haut am Hals, und unter dieser dünnen Schale sah ich, wie sich ihre Adern zuckend bewegten. Sie sahen aus wie kleine, dünne Röhren.
»Wundert Sie das, Helen?«
»Ja, es wundert mich. Es wundert mich sogar sehr. Ich… ich kann es nicht fassen. Sie halten mich nicht für eine völlig überspannte Person mit Halluzinationen, die in eine Anstalt gehört?«
»Dafür halte ich Sie nicht.«
»Aber warum nicht?« rief sie und sah so aus, als wollte sie von ihrem Platz in die Höhe springen.
»Haben Sie Mitleid mit mir? Denken Sie vielleicht, daß ich sowieso schon so weit durchgedreht bin, daß ich nichts anderes mehr denken kann? Daß der Aufenthalt in der Klinik überhaupt nichts gebracht hat?«
»So denke ich nicht.«
»Dann sind Sie ein Phänomen.«
»Nein, Helen, das bin ich auch nicht. Schauen Sie mal. Ich gehöre zu einer Truppe, die sich mit bestimmten Fällen beschäftigt. Es sind keine normalen Fälle, die Sie vielleicht von einem Polizisten erwarten, Helen. Nun ja, ich weiß, daß es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir uns rational nicht erklären können. Deshalb lache ich Sie auch nicht aus. Ich bin gekommen, um einen Fall zu lösen, auch wenn er noch so anders aussieht als die übrigen. Sie müssen mich verstehen, ich kenne mich aus.«
»Ja«, sagte sie leise und wiederholte das Wort, obwohl es nicht überzeugend klang. »Ich verstehe alles und begreife nichts. Ich weiß nur, daß es mich erwischt hat, und ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, daß es nach dem Klinikaufenthalt schlimmer geworden ist. Das müssen Sie mir glauben.«
»Einfach so?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hat es einen Grund gegeben? Oder ist dieser Grund einfach nur mein Besuch bei Ihnen?«
Helen schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Sinclair, das ist es nicht. Sie haben in gewisser Hinsicht Glück gehabt, wenn ich das mal vorweg sagen darf. In der vergangenen Nacht quälte mich nämlich wieder dieser schreckliche Traum. Er riß mich aus dem Schlaf. Ich sprang auf, ich war benommen, aber nicht so von der Rolle, als daß ich diesen Traum vergessen hätte. Sehr deutlich stand er noch vor mir, plastisch, in furchtbaren, erschreckenden Bildern. Er war so verdammt echt. Ich habe mich wieder auf dieser Lichtung gesehen, umflattert von den großen Vögeln. Nun ja, den Rest kennen Sie. Ich erwachte, aber ich blieb diesmal nicht in meinem Bett liegen, sondern ging zum Fenster, um es zu öffnen. Und da… da… ja da geschah es dann.«
Sie sprach nicht mehr weiter, sondern starrte an mir vorbei ins Leere. Aus ihrem Gesicht wurde eine Maske, die einen schiefergrauen Schimmer bekommen hatte. Helen traf die Erinnerung an ihren Traum wie ein mächtiger Schock. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich gefangen hatte, und ich stellte ihr auch zuvor keine Frage. Wenn sie reden wollte, würde sie das tun, und ich hatte mich nicht getäuscht.
»Ich hatte also das Fenster geöffnet, weil es mir in meinem Zimmer zu heiß und stickig geworden war. Ich schwitzte am gesamten Körper, das können Sie sich kaum vorstellen. Mein Herzschlag raste, und ich schaute hinaus in die Nacht, die dunkel wie eine Wand vor mir lag. Selbst die Wolken konnte ich kaum erkennen, aber ich sah den schwarzen Schatten, der auf mich zuraste und sich irgendwo aus der nahen Umgebung hier gelöst hatte.«
»War es ein Vogel?«
Helen schaute mich aus gläsern wirkenden Augen an. Sie bewegte ihre Lippen, aber sie sprach nicht, sondern nickte nur. Zwei-, dreimal hintereinander.
»Was tat er?«
»Er biß zu.«
»Und das war kein Traum?«
»Nein!« brachte sie mühsam hervor, »das war kein Traum. Das habe ich in der Wirklichkeit erlebt.«
Ich legte zunächst eine Verschnaufpause ein, was auch ihr guttat. »Wo wurden Sie denn getroffen, Helen, wobei ich von einem Schnabelhieb ausgehe.«
»Stimmt. Es traf mich am
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