0763 - Strigen-Grauen
auch in ihrer Panik das Haus verlassen würde.
Sie tat es nicht.
Als ich das Wohnzimmer verließ, sah ich noch, wie eine der anderen Türen wieder zuflog. Welcher Raum hinter ihr lag, erfuhr ich einen Moment später, als ich die Tür wieder aufriß.
Es war ein relativ kleines Bad, wahrscheinlich nur für Gäste gedacht, und Helen stand vor einem Spiegel, der gleichzeitig die Vorderseite eines Wandschranks bildete und über dem Waschbecken angebracht worden war.
Sie starrte hinein, sie sah sich, sie erkannte jede Einzelheit, und sie konnte es nicht fassen.
Sie weinte.
Ich ging langsam näher. Obgleich sie mich im Spiegel sehen konnte, tat sie nichts, um etwas zu ändern. Ihr Gesicht wirkte im Spiegel fremd, aber er gab eben nur das wider, was man ihm präsentierte. Und das war nun eine Frau, die sich während der letzten halben Minute stark verändert hatte.
Angst zeichnete ihr Gesicht. Es war eine tiefe, beinahe hündische Angst vor den schrecklichen Folgen. Sie kam nicht umhin, sich nur anzuschauen, und wahrscheinlich sah sie nur die Wunde an der rechten Wange, aus der drei graubraune Federn wuchsen.
Die in der Mitte war länger als die beiden an den Seiten. Sie schien so etwas wie ein Zeichen zu sein, ein Omen, und wahrscheinlich war sie auch die erste Feder gewesen, die aus der von einem Schnabelhieb hinterlassenen Wunde gewachsen war.
Ich erinnerte mich daran, daß Helen bei der Zahl drei so panikartig reagiert hatte. Warum hatte sie das getan? War es möglich, daß sie damit nicht hatte rechnen können? Daß sie wohl von einer oder zwei Federn wußte, aber nicht von dreien?
Sie hob langsam ihren rechten Arm. Ich wartete, bis die Hand in den Bereich der Spiegelfläche geriet, und schaute auch zu, wie sie sich zu einer Klaue krümmte. Ich ahnte, was diese Frau vorhatte, und ich flüsterte: »Nein, lassen Sie es.«
Helen schüttelte den Kopf.
Einen Moment später schlug sie ihre Hand gegen die Wange, krümmte die Finger und wollte die drei Federn herausreißen. Ich war ebenso schnell, packte ihr Gelenk, um es wegzudrehen, aber Helen hielt eisern fest und trat dabei mit beiden Füßen auf der Stelle.
»Ich will es weghaben! Ich will es nicht mehr sehen! Ich kann den Anblick nicht ertragen! Es ist der Horror! Es ist…«
»Hören Sie auf!«
»Niemals!« Helen entwickelte übernormale Kräfte. Sie riß trotz meiner Fingerklammer an den Federn und schaffte es, sie aus der Wunde zu reißen. Was folgte, war ein kleiner Blutstrom. Sie schleuderte die Federn zu Boden, wankte dann zurück und fand auf einem Hocker ihren Platz, wo sie sitzen blieb, nach einem Handtuch griff und es sich gegen die. Wange preßte.
Ich bückte mich und hob die Federn auf. Aus der Nähe schaute ich sie mir an und sah, daß an den Enden der dünnen Stiele noch Blutstropfen klebten, aber auch kleine Hautreste.
Ich legte sie auf den Rand einer schmalen Badewanne und kümmerte mich um Helen.
Sie war nicht in der Lage zu sprechen. Wie festgefroren hockte sie auf dem Hocker und starrte ins Leere. Ihr Blick bestand aus einer Mischung von Angst und Wissen. Die grünen Augen flackerten, der Mund zitterte. An einer Stelle des Handtuchs hatte sich das Blut freie Bahn verschafft und rann auf ihren Hals zu.
Ich fand einen Waschlappen, feuchtete ihn an und wischte das Blut so gut wie möglich weg.
Neben ihr blieb ich knien. »Darf ich mir die Wunde einmal anschauen, Helen?«
»Nein, nicht, bitte nicht.«
»Warum nicht? Sie haben die Federn doch herausgerissen.«
Helen Kern schloß die Augen. »Was soll schon okay sein?« fragte sie. »Mit mir ist nichts mehr okay. Mich haben teuflische Kräfte als ihre Gefangene ausgesucht. Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß auch nicht, weshalb ich es gewesen bin, und ich weiß nicht mehr, was ich noch alles denken soll. Ich bin nicht mehr die Helen Kern. Ich bin auf dem Weg, zu einem Monster zu werden. Verstehen Sie?«
»Ja, aber ich glaube es nicht.«
»Was wollen Sie als Polizist schon glauben? Sie müssen sehen. Okay, Sie haben gesehen, und ich habe Ihnen erzählt, wie es passierte. Noch Fragen, Mister?« Sie weinte wieder, aber sie setzte mir keinen Widerstand entgegen, als ich ihre rechte Hand berührte und sie gemeinsam mit dem blutdurchtränkten Handtuch zur Seite drängte, weil ich eben die freie Sicht auf ihre Wange haben wollte.
Das Blut war an den Seiten der erschreckend tiefen Wunde geronnen. Nichts strömte mehr nach, was mich bei dieser Größe schon wunderte. Ich schaute tiefer in
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