0763 - Strigen-Grauen
sie hinein und stellte fest, daß sie in der Mitte ein kleines Loch auswies.
»Ich spüre es im Gaumen«, sagte Helen leise.
Das hatte ich befürchtet. »Und wie verhält es sich mit den Schmerzen?« fragte ich.
»Sie waren da.«
»Jetzt nicht mehr? Was spüren Sie dann?«
»Nichts, als wäre alles an dieser rechten Seite nur mehr totes Fleisch. Betäubt, verstehen Sie? Aber man hat mir doch keine Spritze gegeben, Mr. Sinclair.«
»Das sehe ich auch so.«
»Ich will gehen.«
»Natürlich, aber ich bleibe bei Ihnen.«
Meine Antwort brachte sie zum Lachen. »Das geht nicht, Mr. Sinclair. Sie können nicht bei mir bleiben. Sie haben eine Arbeit, der Sie nachgehen müssen, deshalb vergessen Sie Ihren Vorschlag am besten. Es ist besser für uns beide.«
»Ich glaube, da irren Sie sich. Ich werde ihn nicht vergessen, meine Liebe. Sie sind mein Job. Sie und keine andere. Vergessen Sie nicht, daß ich einen Fall aufzuklären habe und deshalb zu Ihnen gekommen bin.«
»Sanders, wie?«
»Stimmt.«
»Ich habe mit ihm nichts zu tun. Ich… ich kann mir auch nicht vorstellen, was er mit mir zu tun haben soll. Er hat mich nicht angegriffen, es war ein Vogel.«
Ich ließ sie weiterreden und schaute mir inzwischen die Wunde an. Sie war ziemlich groß geworden.
Wenn ich die verfärbten Ränder mit hinzuzählte, nahm sie schon die Hälfte der Wange ein, und das bereitete mir deshalb Sorgen, weil ich davon ausging, daß sich möglicherweise weitere Federn unter der Haut verborgen hielten und irgendwann zum Vorschein kommen würden. Es war alles möglich, denn durch den Biß des Vogels war diese magische Impfung vollzogen worden.
Doch welch ein Vogel?
Helen hatte ihn nicht erkennen können. An den von ihr erwähnten Adler glaubte ich auch nicht, aber ich nahm ihr die Größe des Vogels durchaus ab. Da wiederum machte ich mir meine eigenen Gedanken, denn durch meinen Kopf spukte bereits eine bestimmte Idee.
Ich erinnerte mich an alte dämonische Feinde, die ich vor Jahren zum erstenmal in Schweden erlebt hatte.
Die Strigen!
Es waren Bluteulen, Horror-Eulen, dämonische Geschöpfe, die von Strigus, ihrem Chef und Beherrscher, angeführt wurden. Strigus war eine Mischung aus Mensch und Eule. Wenn ich diesen Gedanken weiter verfolgte und Helen damit einbrachte, so war sie ebenfalls auf dem Weg, eine Strige zu werden.
Eine erschreckende Folgerung, doch leider nicht mehr von der Hand zu weisen.
Aber einfach so? Konnte ein x-beliebiger Mensch zu einem Strigenwesen werden?
Nein, nichts geschah ohne Grund. Helen mußte etwas erlebt haben, das damit in einem unmittelbaren Zusammenhang stand, und ich dachte wieder an ihre Erzählungen, besonders an den Teil, der sich um die Klinik gedreht hatte, in der sie acht Wochen praktisch eingesperrt gewesen war. Lag hier der Schlüssel für ihre Verwandlung?
Es war zumindest der Punkt, an dem meine Überlegungen immer wieder festhakten. Leider wußte ich zuwenig darüber, aber das konnte sich durch Helens Aussagen ändern.
»Was werden Sie denn jetzt tun?« fragte sie leise.
»Bei Ihnen bleiben.«
Sie überlegte. »Hier? In meiner Wohnung? Bei Tag und auch in der Nacht, Mr. Sinclair?«
»Das hatte ich vor.«
Sie seufzte auf. Ich wußte nicht, ob aus Erleichterung oder aus Widerstand. Jedenfalls sprach sie nicht dagegen, hob die Schultern und schwieg ansonsten.
»Wo haben Sie hier Pflaster?«
»Nutzt das was?«
»Ich denke schon. Sie können nicht mit dieser offenen Wunde herumlaufen. Denken Sie an die Bakterien, die es auch hier in Ihrer Wohnung gibt. Es wäre schon besser, wenn ich Sie ein wenig verarzte.«
»Im Spiegelschrank. Schauen Sie dort nach.«
»Gut.« Ich fand die Pflaster rasch. Die Wunde war allerdings so groß geworden, daß ich zwei Rechtecke nehmen mußte, um sie zu verdecken. Helen hielt dabei still. Sie hatte sich wieder ein wenig erholt und sah auch besser aus im Gesicht, obwohl sie noch immer am ganzen Leib zitterte und auch ihre Hände nicht ruhighalten konnte. Nervös fuhr sie damit über die Oberschenkel. Dann wischte ich noch etwas Blut ab, nickte ihr zu und sagte: »Jetzt könnten Sie einen Schluck vertragen, denke ich.«
»Ja - sicher.«
Wir gingen zurück in den Wohnraum. Helens Schritte waren schleppend, und sie hatte sich dabei an mich gelehnt. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, sie ging wie eine Puppe und hatte auch nichts dagegen, daß ich sie in ihren Sessel drückte, denn auf der Couch wollte ich meinen Platz finden.
»Sind Sie denn
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