0766 - Das Grauen von Grainau
also. Du kleine Ratte schleichst hier über den Friedhof und schändest die Gräber.«
Mario schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich habe den Gräbern nichts getan.«
»Halt's Maul. Was immer du auch gemacht hast, ich werde dir eine Abreibung verpassen und dich dann mit zur Polizei nehmen. Sollen die sich um dich kümmern.« Der Gärtner bemühte sich, einigermaßen Hochdeutsch zu sprechen, denn auch er hatte gemerkt, daß vor ihm ein ausländischer Junge stand.
»Ich gehe nicht zur Polizei!«
»Ha, da wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben. Die haben auf Lümmel wie dich nur gewartet. Wo kommst du überhaupt her?«
»Nicht von hier.«
»Das sehe ich. Bist ja fast ein Neger. Tourist hier in Grainau?«
»Nein.«
»Wo dann?«
»Am Eibsee.«
»Ach so - da.« Der Mann schnaufte verächtlich. »Ist vornehm da.« Er schaute sich um. Die Beine hatte er ausgestreckt und die Füße direkt in den weichen Grabboden gerammt. Mit der rechten Hand deutete er auf die Kerzenleuchter. »Was hat das zu bedeuten? Weshalb stellst du die Dinger auf die Grabsteine? Bist du verrückt?«
»Das mußte so sein.«
»Ach ja? Warum denn?«
»Weil ich mit den Toten eine Verbindung aufnehmen will - deshalb!«
Der Gärtner hatte die Antwort locker nehmen wollen. Jetzt aber stutzte er und beugte den Kopf vor.
Er schluckte, rülpste, der Bierdunst drang noch stärker auf das Grab, dann fragte er: »Sag mal, kannst du das wiederholen?«
»Gern.«
Der Mann keuchte und flüsterte: »Ich glaub', ich steh' im Wald. Ich… ich bin doch nicht blöd. Das ist doch Scheiße. Du willst mich hier auf dieser Stätte verarschen, du kleiner Stinker.«
»Das will ich nicht.«
»Was willst du dann?«
»Daß man mich in Ruhe läßt. Ich will allein mit den Toten sein. Wir haben uns viel zu sagen, sehr viel.«
Der Gärtner wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Da er sich nicht entscheiden konnte, tat er keines von beiden. Er kam aber auf die Gräber zu sprechen. »Okay, Bursche, du hast dir die richtigen ausgesucht. Weißt du überhaupt, wer hier in der Erde liegt? Wer hier vor vielen Jahren verscharrt wurde?«
»Drei Männer.«
»Ja, du hast recht. Drei Amis. Bist wohl auch Ami, wie? Es waren Soldaten, die hier mal hausten. Nichts gegen die Soldaten im allgemeinen, aber diese drei waren Hundesöhne, Verbrecher. Sie… sie haben schlimme Dinge gemacht, sie töteten, deshalb mußten sie sterben. Irgend jemand hat sie erwischt. Der Mörder ist bisher nicht gefunden worden. Sie sollten auch nicht nach drüben gebracht werden, deshalb hat man sie hier verscharrt. Abseits des normalen Friedhofs, in ungeweihter Erde. Ein Platz für Mörder. Wir hätten uns gern gewehrt, damals, aber das ging nicht. Wir hatten nichts zu sagen. Und seit der Zeit - vierzig Jahre schon - liegen sie hier. Sie sind verfault«, der Gärtner verzog das Gesicht vor Ekel. »Die Würmer haben sich in ihr Fleisch gegraben. Höchstens Knochen würden wir noch finden. Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden wir die drei Gräber hier einebnen, denn wir brauchen Platz für neue Gräber.«
»Das weiß ich.«
»Wie schön.«
»Deshalb bin ich auch gekommen, um sie zuvor noch einmal zu sehen. Ich will auch mit ihnen sprechen. Es ist wichtig, sehr wichtig sogar.«
Der Gärtner holte tief Luft. »Gut, es ist wichtig für dich. Das glaube ich dir sogar, denn ich habe dich schon in den letzten Nächten beobachtet. Du bist des öfteren über den Friedhof geschlichen, und du hast auch immer wieder in mein Gartenhaus geschaut. Ich habe es dann mit einem Schloß versehen, mußte jedoch feststellen, daß es aufgebrochen war. Eine strafbare Handlung, mein Junge, und deshalb werde ich dich der Polizei melden.« Er bekräftigte seine Worte durch ein Nicken. »Du kannst jetzt die Kerzen ausblasen und die Leuchter wieder mitnehmen. Ein Friedhof ist da, um die heilige Ruhe zu bewahren, aber nicht, um irgendwelche komischen Experimente darauf zu veranstalten. Ich habe in der Zeitung über Jugendliche gelesen, die in der Nacht auf den Friedhof schleichen und die Gräber schänden. So etwas darf bei uns nicht geschehen. Pack jetzt deinen Kram und verschwinde von hier.«
»Ich gehe nicht.«
Der Gärtner glaubte, sich verhört zu haben. Er schüttelte zunächst den Kopf, schaute den Jungen an und ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
Etwas gefiel ihm nicht. Er war zwar nicht betrunken, aber er mußte trotzdem überlegen, woran es lag. Dann fiel es ihm ein. Der Junge zeigte keine
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