0766 - Das Grauen von Grainau
immer. Die Kerzen waren schon heruntergebrannt. Das Wachs lief als Tropfenspur an ihnen entlang und fing sich auf dem Metall der Ständer.
Mario betrat das Grab. Diesmal mit etwas zögerlichen Schritten, als wäre es etwas Besonderes für ihn, sich auf dieses Terrain zu stellen. Aber es war wie immer - noch war es so. Mario hoffte jedoch, daß es sich ändern würde, weil er jetzt seine Ruhe hatte und bestimmt nicht mehr abgelenkt werden würde.
Er kniete nieder.
Es tat gut, mit der Graboberfläche Kontakt zu haben. Sie war so wunderbar weich, beinahe schon federnd und kam ihm vor wie ein für ihn gemachtes bequemes Bett.
Er drückte seine Handflächen gegen die Erde und wartete darauf, daß sich etwas tat.
Es passierte nichts.
Mario schwitzte vor Aufregung. Es gefiel ihm überhaupt nicht, was hier ablief. Er war plötzlich ärgerlich geworden und fühlte sich im Stich gelassen.
Aber er gab nicht auf.
Der Junge senkte Oberkörper und Kopf. Er drehte ihn leicht, damit er wieder sein Ohr gegen die Erde drücken konnte. Er wollte genau hören, was da aus der Tiefe zu ihm klang, denn noch immer wartete er auf die Botschaft.
Sie kam nicht…
Er dachte an die andere Möglichkeit, denn dafür kannte er die Beschwörungen der unheiligen Kräfte. Aus seinem Mund drangen flüsternde Worte. Er hatte die Sprache nicht gelernt, er beherrschte sie trotzdem.
Langsam redete er…
Wort für Wort floß über seine Lippen. Mario flüsterte die Erde an, er drängte jedes Wort in sie hinein, als könnte er so Kontakt zu dem Toten aufnehmen.
Die Leiche mußte reagieren. Sie hatte ein Opfer bekommen. Jetzt sollte sie sich gnädig erweisen, gerade ihm gegenüber. Etwas anders kam für ihn nicht in Frage.
Mario hatte Glück.
Man gab ihm die Antwort. Es war ihm tatsächlich gelungen, die alten Kräfte zu wecken, und sie drückten ihren Gruß aus der Tiefe des Grabs an die Oberfläche.
Ersah…
Der Junge wußte nicht, ob er der einzige war, der es jemals geschafft hatte, in ein zugeschüttetes Grab zu sehen, aber unter ihm öffnete es sich. Die Erde verwandelte sich in Glas, das seinem Gewicht standhielt. Ihm öffnete sich zwar noch die normale Welt, doch sie kam ihm vor wie eine neue, eine andere.
Hier siegte die Magie über die Realität, und was Mario da zu Gesicht bekam, ließ ihn erschauern…
***
Nicht alle schliefen in dieser Nacht. Zu denjenigen Menschen, die wach lagen, gehörte auch eine Frau, die die Angewohnheit hatte, stets nackt zu schlafen. Voller Unruhe hatte sie sich in den letzten Stunden auf dem Bett herumgewälzt. Durch ihren Kopf waren die unterschiedlichsten Gedanken und Vorstellungen getobt. Leider war es ihr nicht gelungen, sie in die entsprechenden Bahnen zu lenken, so daß nur die Unruhe und die Leere zurückgeblieben waren.
Irgendwann bekam sie sich so weit unter Kontrolle, daß sie auf dem Rücken liegenblieb und gegen die Decke des Schlafzimmers schaute, die über ihrem Kopf einen fahlen Himmel bildete.
Wenn sie den Blick senkte, konnte sie in den Wohnraum der kleinen Suite hineinschauen. Er und das Schlafzimmer waren durch einen offenen Durchgang miteinander verbunden.
Diese Nacht war schlimm, aber sie war auch wunderschön, denn es würde sich einiges entscheiden, von dem die Person, die in dem anderen Bett lag, nichts ahnte.
Sidney Davies schlief tief und fest.
Das hatte seinen Grund, denn am Abend zuvor hatte er ziemlich viel getrunken. Wein und Bier hatten ihn fertiggemacht. Eartha hatte ihn trinken lassen, sie wußte, daß Sid es manchmal brauchte, denn hinter ihm lag eine Hölle. Und was vor ihm lag, das konnte durchaus noch schlimmer werden, denn die Angst war seit ihrer Flucht aus den Staaten auf keinen Fall verschwunden. Sie würde nie vergehen, denn sie gehörten zu den Leuten, die von einer mächtigen. Organisation gejagt wurden, und da gab es keine Stadt auf der Welt, in der sie vor den Fangarmen der verdammten Mafia sicher waren.
Der Schlaf wollte nicht kommen. Eartha wußte, daß es auch mit ihrem Sohn zusammenhing, und sie fragte sich, ob es gut gewesen war, ihn allein zu lassen.
Für sie jedenfalls hatte es keinen Sinn, noch länger wach im Bett zu bleiben. Außerdem empfand sie es als zu warm im Zimmer. Aus Sicherheitsgründen war die Tür zur kleinen Terrasse geschlossen geblieben. Es sollte niemandem die Chance geboten werden, heimlich in die Suite einzusteigen, um lautlos morden zu können.
Eartha wälzte sich auf die rechte Seite und stand auf. Die Lücke zwischen
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