0766 - Das Grauen von Grainau
bald wie jemand, der von der normalen Erde abgehoben hatte.
War er schon der Herr über die Toten?
Seine Augen jedenfalls erinnerten an die von Leichen. Sie hatten sich auf eine ungewöhnliche Art und Weise verdreht. Die Pupillen waren so gut wie verschwunden, und nur das Weiße schaute hervor wie bei zwei bemalten Spiegeln.
Die letzte Runde lag hinter ihm.
Vor dem ersten Grabstein blieb Mario Davies stehen. Er schwankte leicht, die letzten Anstrengungen waren auch für ihn nicht so leicht zu verkraften gewesen. Dann senkte er den Blick. Er hoffte, daß sich das Grab vor ihm öffnen und ihm zeigen würde, was dort unten lag, aber die Hoffnung erfüllte sich nicht.
Der Junge stöhnte auf.
Warum nicht? Weshalb hatten die Beschwörungen keinen Erfolg gezeigt? Es waren die alten, überlieferten Sprüche gewesen, und er hatte nichts falsch gemacht.
Oder trauten sich die Leichen nicht, sich zu melden? Das konnte durchaus sein. Wenn es stimmte, dann lag der Fehler bei ihm, dann hatte er etwas übersehen.
Mario schüttelte den Kopf. Noch einmal erinnerte er sich, betrachtete dabei den Mond und schien dessen Schein zu trinken, um neue Kraft zu bekommen.
Doch er war weder ein Werwolf noch ein Vampir, sondern nur ein normaler Mensch mit einem bestimmten Wissen und auch einer bestimmten Herkunft.
Der Mond schwieg, die Toten ebenfalls, und so startete er einen letzten Versuch.
Mario kniete sich auf dem Grabboden hin. Deutlich spürte er die weiche Erde. Wollte sie ihn verschlingen?
Der Junge beugte seinen Körper vor und horchte konzentriert.
Die kühle Erde berührte sein Ohr, er hörte nichts, kein Kratzen alter Fingernägel, kein Knirschen brechender Knochen, es blieb totenstill, wie es sich für einen Friedhof gehörte. Dann flüsterte er die Worte in die Graberde hinein. Dicht vor seinem Gesicht bewegte sich ein Käfer. Das Tier wurde vom Luftzug erwischt, der die Worte begleitete. Es floh.
Mario gab nicht auf. Er wußte, daß man nicht nur mit den Menschen Geduld haben mußte, mit den Toten verhielt es sich nicht anders. Sie hatten zwar keinen eigenen Willen mehr, doch sie würden sich irgendwann schon dankbar zeigen.
»Verlasse das kühle Grab! Komm endlich wieder! Deine Zeit ist da. Du kannst gar nicht weit genug entfernt gewesen sein, als daß ich dich nicht gefunden hätte. Ich werde es sein, der dich aus dem dunklen Schacht hervorholt. Stoße die kalte Erde beiseite, komm in, die alte Welt, wo ich im Schein des Mondes auf dich warten werde. Es ist meine Nacht, es ist deine Nacht, unsere Nacht. Die Entscheidung muß heute fallen. Ich habe mich nicht geirrt.«
Der Junge bebte und zitterte. Er wollte endlich den Lohn seiner langen Bemühungen ernten.
Hatte er Erfolg damit?
Ja, die Antwort war da.
»Habe ich dich endlich, du kleiner Hundesohn, du!«
Mario Davies hatte das Gefühl, allmählich zu vereisen. Wie konnte dieser Tote nur so zu ihm sprechen? Das war Wahnsinn, das durfte einfach nicht sein!
Die Stimme hatte ihn aus seiner eigenen Welt hervorgerissen, und plötzlich konnte er wieder klar denken und fand sich zurecht. Nein, sie war nicht aus dem Grab gedrungen, sondern aus seiner unmittelbaren Nähe. Wahrscheinlich sogar hinter ihm.
Von dort hörte er sie noch einmal. »Komm endlich hoch, du verdammter Grabschänder!«
Auch wenn Mario die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschte, er wußte schon, was der Fremde gemeint hatte. Sehr langsam drehte er sich um, und ebenso behäbig stand er auch auf.
Vor ihm stand der Friedhofsgärtner!
***
Eigentlich hätte er jetzt vor Schreck im Boden versinken oder anfangen zu zittern müssen, doch der Junge blieb gelassen, auch wenn der Mann, der sich vor ihm aufgebaut hatte, viel kräftiger und größer war als er. Als Gärtner konnte er kein Schlappschwanz sein. Da brauchte er Kraft, denn er war gleichzeitig auch Steinmetz und kümmerte sich um die Grabsteine. Manche schleifte er zurück, schnitt sie auch in einer kleinen Werkstatt, und wenn er sie stemmte, bekamen manche Zuschauer wegen seiner Kräfte große Augen.
Der Mann trug eine dunkle Hose, Gummistiefel, ein Hemd und eine ärmellose Weste. Sein rundes Gesicht mit der kräftigen Sattelnase sah im Schein der Kerzen aus wie geröstet. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Aus seinem Mund wehte Mario eine Fahne entgegen.
Der Mann nickte. Er schaute sich um. Die breiten Lippen zuckten dabei, aber er hielt sich mit einem Kommentar zurück. Schließlich sagte er, was sehr selbstzufrieden klang. »Du
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