077 - Das Kollektiv
einen ohnehin schon unablässig schnatternden Vogelschwarm von seinem Schlafplatz. In das Kreischen der Möwen mischten sich helle Stimmen aus der Nachbarhütte - zwei Kinder, die man auch ohne Worte verstehen konnte. »Das ist meins! Gib es her!«, lautete wahrscheinlich ihr Zank, auch wenn er anders ausgesprochen wurde.
Aruula seufzte und gab auf. Als sie den Kopf hob, landete ein einzelner Regentropfen auf ihrer Wange. Bis sie die Hand ausgestreckt hatte, waren es schon mehrere, und als sie das tiefschwarze Wolkenband in der Morgendämmerung über dem Kratersee entdeckte, hatte dessen Ausläufer bereits die Küste erreicht.
Ein Tropfenheer pladderte auf die schilfgedeckten Hütten nieder, deren männliche Bewohner - wie einem Weckruf folgend - augenblicklich ins Freie kamen. Gemeinsam liefen sie hinunter zum Strand und wateten ins seichte Wasser, wo ihre Boote in der heftiger werdenden Dünung an den Tauen zerrten. Zwei große, hundeähnliche Tiere waren irgendwo zwischen den Hütten aufgetaucht und folgten ihnen bis auf den schmalen Sandstreifen.
Erneut flog der Vogelschwarm kreischend von seinem Rastplatz auf, und die schwarzen Kläffer hopsten in die Höhe, um das rosa schimmernde Frühstück aus der Luft zu holen - ein Versuch, der mit heftigen Schnabelhieben geahndet wurde.
Aruula verfolgte den Flug der Vögel, dachte an ihre eigene Begegnung mit den aggressiven Tieren und verzog das Gesicht.
»Shiimshuk«, sagte jemand neben ihr, und die Barbarin fuhr herum.
Wiko'o kam heran, stellte eine große aufklappbare Muschel vor sie hin und trat zwei Schritte zurück. Gespannt, nahezu ehrfürchtig sah er sie an.
Aruula zog eine fragende Miene.
Shiimshuk - das hatten die Fremden ihr zugerufen, als sie hilflos im Griff des Todesrochen hing. War es ein Schimpfwort?
»Shiimshuk?«, fragte sie den Jungen mit zusammengezogenen Brauen und tippte sich an die Brust.
Wiko'os Augen weiteten sich, dann bog er den Kopf zurück und prustete los. »Net! Net!«, rief er, schüttelte lachend den Kopf, dass die regennassen Zöpfe nur so flogen, und zeigte auf die Vögel. »Dai! Shiimshuk!« Um sicher zu gehen, dass die Fremde ihn verstand, ahmte er die Möwenschreie nach und wedelte mit beiden Armpaaren.
Als er innehielt, hatte Aruula ihre Hand über den Mund gelegt und lachte lautlos in sich hinein. Wiko'o nickte zufrieden, kam heran, hockte sich hin und klappte die Muschel auf.
»Shiimshuk«, sagte er erneut, diesmal jedoch etwas anders betont. Unbekümmert stocherte er mit vier langen Fingern in der Muschel herum, suchte zwischen Krautern und schmalen Streifen Räucherfisch ein besonders delikates Stück heraus und hielt es Aruula hin. »Shiimshuk!«, wiederholte er andächtig und klopfte sich an die Magengegend.
Jetzt erst fiel Aruula auf, dass sie seit dem gestrigen Morgen nichts mehr gegessen hatte. Die Barbarin ignorierte den hingehaltenen Bissen, nahm stattdessen die Muschel, beugte sich darüber und fiel heißhungrig über den Inhalt her.
Unablässig folgte Wiko'os Blick ihrer Hand, wie sie Nahrung in einen Mund schob, dessen Lippen so viel größer und voller waren als die der Mädchen von Yebo'kraad. Jedes Mal, wenn sich Aruula lustvoll die Finger ableckte, fuhr ihm wieder dieses unglaubliche Gefühl in die Lenden, das seit kurzem seinen Körper - und seine heimlichen Träume - beherrschte.
Großvater Semjo'on hatte ihm die Veränderung erklärt und genau beschrieben, was junge Männer taten, wenn ihr Körper danach verlangte. Allerdings, hatte er warnend hinzugefügt, nur wenn ein Mädchen dazu bereit war - was man daran erkennen konnte, dass sich die dunklen Schuppenstreifen auf den Brüsten rot verfärbten. Blöderweise trug die Fremde ihren Busen in kleine Tücher gehüllt! Wiko'o verrenkte sich fast den Hals beim Versuch, einen Blick unter den Rand zu erhäschen, aber es gelang ihm nicht - und als er endlich den Mut aufbrachte, nach den Objekten seiner Begierde zu greifen, war es zu spät.
»Bei Wudan!«, stieß Aruula hervor, die während des Essens mehr auf die Fischfänger als auf Wiko'o geachtet hatte. Sie waren emsig damit beschäftigt, alle tragbare Gerätschaft an Land zu holen und in einer Hütte zu verstauen, die ein wenig abseits hinter Holzgestellen und wehenden Netzen stand. Aruula ließ die Muschel fallen und sprang auf.
Eine Sturmböe war über den Strand gefegt und hatte das kleinste der vier Boote so heftig angehoben, dass das Ankerseil gerissen war. Nun drohte das treibende Boot seinen
Weitere Kostenlose Bücher