077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
daß Ihre Befürchtungen aus der Luft gegriffen sind?“
„Ja … oh ja!“
Befürchtungen.
Jeannine schüttelt den Kopf, sie hat keine Furcht. Sie hat keine Angst mehr, weil sie endlich einen Beweis besitzt. Sie braucht nicht zu warten, bis man mit der Portiersfrau gesprochen hat, um zu wissen, daß die Anwesenheit der Rosen und der Tasche in ihrer Wohnung unerklärlich bleiben wird.
„Und da er Ihren Schlüsselbund hatte“, fährt Morestier fort. „konnte Leggatt auch leicht in Ihre Wohnung kommen!“
„Meinen Schlüsselbund?“ Jeannine scheint mit ihren Gedanken anderswo zu sein. „Ich stecke den Wohnungsschlüssel immer in meine Manteltasche. Ich gebe ihn nie auf den Schlüsselbund.“
„Vielleicht hat er einen Dietrich verwendet, Ihr Wohnungsschloß ist sicherlich kein besonders ausgefallenes Fabrikat. Vergessen Sie nicht, daß er zwei ganze Tage seit Ihrer Flucht zur Verfügung hatte!“
„Aber diese Rosen sind frisch. In einer Vase ohne Wasser.“
Sie erhebt sich und geht ins Badezimmer, um die Vase zu füllen.
„Sie wurden heute gebracht“, fährt sie fort, als sie wieder ins Zimmer kommt. „Aber die Portiersfrau hätte sofort den Kommissar verständigt, wenn jemand nach meiner Wohnung gefragt hätte, denn sie wurde ja von der Polizei darum ersucht.“
„Vielleicht hat Leggatt unten nicht gefragt…“
„Wie wußte er dann, wo mein Apartment ist?“
„Vielleicht hat er es zufällig erraten. Er hatte lange genug Zeit.“
Morestier entdeckt, daß es zwei verschiedene Arten der Logik gibt, eine so unantastbar wie die andere. Sie hängen nur davon ab, von welcher Seite wir die Dinge betrachten.
Aber Jeannine geht zu weit, das ist ihm klar. Und er muß ihr beweisen, daß sie sich irrt. Dazu würde auch ein völlig absurder Beweis genügen.
Plötzlich verliert Morestier seine Energie; ein absurder Beweis würde genügen – ist denn die menschliche Intelligenz so wenig wert?
„Sicherlich gibt es eine ganz einfache, logische Erklärung für all das“, sagt er.
„Ganz bestimmt. Beunruhigen Sie sich nicht mehr, Doktor. Ich bin überzeugt, daß Sie recht haben.“
Er sieht sie an. Sie macht einen ruhigen Eindruck.
Morestier stößt einen Seufzer der Erleichterung aus. „So gefallen Sie mir“, sagt er. „Mutig und gelassen. Und nun ist es Zeit, daß wir ins Restaurant gehen, um Fauchard zu treffen.“
„Ja.“
Das Gesicht der jungen Frau erhellt sich. Und wieder täuscht Morestier sich über die Ursache ihres Lächelns und glaubt, sie wünsche sich nichts mehr, als den Missetäter der Gerechtigkeit zu übergeben. Aber er kann die Wahrheit nicht ahnen.
Als sie Leggatt erblickt, möchte Jeannine am liebsten umkehren und davonlaufen. Aber sie beherrscht sich.
Morestier hält sie am Arm fest. „Nun? Ist er es?“
Sie braucht nicht zu überlegen, sie hat keinen Zweifel. Und doch sagt sie: „Ich weiß nicht…“
Obwohl sie ein fast körperliches Unbehagen in Leggatts Gegenwart verspürt, hält sie ein seltsamer Zauber gefangen. Sie fühlt sich in seiner Gegenwart allein mit ihm, als ob Leggatt und sie unter einer Glasglocke stünden, und alle anderen außerhalb. Oder wie Fische in einem Aquarium.
„Lassen Sie Ihre Phantasie nicht mit sich durchgehen“, warnt der Arzt.
Ihre Gefühle haben mit Phantasie wenig zu tun. Morestier erscheint ihr plötzlich klein und unwichtig. Ihm wird sie sich ganz gewiß nicht anvertrauen! Aber sie muß so tun, als ob sie bei dem Spiel mitmache.
Leggatt hat den Blick erhoben, Jeannine und Morestier kurz angesehen und seine Aufmerksamkeit wieder seinem Teller zugewandt. Er scheint schüchtern und bescheiden wie sonst, aber Jeannine bemerkt, daß seine Schüchternheit diesmal ein wenig künstlich wirkt. Vor ihm steht eine kleine Flasche Mineralwasser.
Der Wirt kommt hinter der Theke hervor, um Morestier und Jeannine zu begrüßen.
„Mein Bruder“, stellt sie Morestier vor.
„Sehr erfreut“, sagt der Wirt und reicht Morestier die Hand. „Der Kommissar hat mir alles erzählt. Ich möchte Ihnen, Jeannine, gleich sagen, daß Sie Ihren Arbeitsplatz behalten. Ich habe Madame Moutin gebeten, Sie einstweilen zu vertreten.“
„Danke.“
Jeannines Kehle ist wie zugeschnürt.
Juliette kommt aus der Küche, eilt zu Jeannine und umarmt sie.
„Meine arme Jeannine! Wenn ich denke, daß es zu einem guten Teil meine Schuld ist.“
„Aber nein“, sagt Jeannine ein wenig müde. „Du hast keine Schuld daran…“
Morestier sieht sich um. Leggatt
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